Reinhold Stecher
Betrachtungen
Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
13., neu gestaltete Auflage 2013
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung: Tyrolia-Verlag, unter Verwendung des
Bildes „Vernagtsee (Südtirol)“ von Reinhold Stecher
Druck und Bindung: Alcione, Lavis (I)
ISBN 978-3-7022-3282-5 (gedrucktes Buch) ISBN 978-3-7022-3305-1 (E-Book) E-Mail: buchverlag@tyrolia.atInternet: www.tyrolia-verlag.at
Begegnung mit Gott Begegnung mit Gott Wenn ich könnte, lieber Leser, würde ich versuchen, in Ihnen und um Sie herum Stille zu schaffen. Ich möchte, dass Ihre Gedanken das Tagesprogramm und alle großen und kleinen Sorgen und Aufgaben und Probleme zurücklassen. Bitte verstehen Sie mich recht: Ich möchte das alles nicht, weil ich meine Worte für so bedeutungsvoll oder gescheit und einmalig halte. Nein, es geht mir wahrhaftig nicht um meine Worte, sondern um das Geheimnis, dem meine Worte dienen wollen: um Ihre Begegnung mit Gott . Damit ist Er genannt, dessen Namen ein Gläubiger des Alten Bundes nicht aussprechen durfte – und von dem wir so oft und so leichthin daherreden. Gott! Was soll ich von Ihm sagen? Wie soll ich Ihn Ihnen nahebringen? Ihn, den Unendlichen, von dem wir nicht reden, sondern höchstens stammeln können? – Ein aussichtsloses Beginnen! Aber im Evangelium des Johannes steht geschrieben, dass der Apostel Philippus beim Letzten Abendmahl zu Christus gesagt habe: „Herr, zeige uns den Vater – und es genügt uns! Und darauf antwortet der Herr: Schon so lange bin ich bei euch – und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen. Wie kannst du sagen, zeige uns den Vater?“ Das ist auch die Antwort für Sie und für mich in diesen Minuten: Wir wollen dem menschgewordenen Gott begegnen, wie er uns in der Schrift entgegentritt. Ich möchte gerne zu Ihnen von Christus sprechen. Wer Christus begegnet ist, wer Ihn gehört, gesehen, betrachtet hat, der hat den kennengelernt, der sich sonst in unnahbarer Erhabenheit allem menschlichen Zugriff entzieht.
Liebe ohne Widerruf Liebe ohne Widerruf Wenn Sie schon einmal bei einem Sterbenden waren, dann wissen Sie, dass man einen Menschen, der in der Nähe des Todes steht, ernst nimmt. Unsere Reaktionen sind nicht mehr so oberflächlich und unüberlegt, wenn wir auf die Worte eines Sterbenden lauschen – und beim Verlesen eines Testaments, in das ein Mensch angesichts seines letzten, großen Schrittes seine Gedanken und sein Vermächtnis gelegt hat, werden wir still. Und wir ahnen etwas von der Größe jedes Daseins. Wir sehen den Menschen in einem Licht, in dem wir ihn noch nie gesehen haben. Die sinkende Sonne kann eine alltägliche Szene in eine unauslöschliche Erinnerung verwandeln. Daran muss ich immer denken, wenn ich in den Evangelien die Berichte vom Letzten Abendmahl lese, vor allem den Bericht des Johannes. Es ist, als ob sich in diesen Sätzen und Kapiteln die Gestalt Christi zu ihrer letzten, endgültigen Größe erhöbe, als ob der Evangelist noch einmal sagen wollte: Seht ihr, so war Er: so gütig, so geduldig, so fest, so mitfühlend, so taktvoll, so heroisch, so großartig! Es klingt doch wie eine feierliche Zusammenfassung des Erlöserlebens: „Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen, und da er die Seinen in der Welt liebte, liebte er sie bis zum Ende.“ Da habe ich nun eine wunderbare Antwort auf das bange Gefühl der Entfremdung, das mich so oft beschleichen will, wenn ich an Gott denke – und an das Gebet – und an das religiöse Leben, diese von meiner Seele durchaus begründete Hemmung gegenüber dem Allheiligen. Meine Liebe zu dir, spricht Gott, ist eine Liebe ohne Widerruf! Da Er die Seinen liebte, liebte er sie bis zum Ende. Ohne Christus wüsste ich das nicht. Aber Sein Verhalten ist bis zum letzten Atemzug eine feierliche Bestätigung dafür, dass es sich so verhält: Die göttliche Liebe ist eine Liebe ohne Widerruf. So ist Gott – und so bleibt Er, auch jetzt in diesem Augenblick, da Sie und ich unsere Gedanken zu Ihm erheben. Und wenn in Ihrem Leben diese Liebe ohne Widerruf auch irgendwie leuchtet, dann hat es einen tief christlichen Zug. In Ihrer Liebe als Mann oder Frau, als Vater oder Mutter, in der Treue zum Beruf, in der Art, mit der Sie sich heute in Ihr Büro oder hinter Ihren Schalter setzen und Ihre Zeitgenossen ertragen. Mit Christus ist viel Liebe ohne Widerruf in die Welt gekommen! Denken Sie nur an alle Gelübde und lebenslangen Dienste, denken Sie an alle eheliche Treue, an alle heilige Verpflichtung, die gehalten wurde!
Die kleinen Lichter genügen Die kleinen Lichter genügen In den Worten, die Christus beim Letzten Abendmahl gesprochen hat, schwingt und bebt heute noch die tiefe Ergriffenheit nach, die Ihn erfasst hatte. Dieser Augenblick, da Er sich mit Seinen Jüngern am Tisch niederließ, war für Ihn ein ersehnter Höhepunkt Seines Lebens. Umso peinlicher ist der Misston, der gleich am Anfang in diese Stimmung fällt. Es heißt: „Es entstand aber auch ein Streit unter ihnen, wer von ihnen als der Größte gelten könne.“ Wahrscheinlich ist die Sache bei der Wahl der Plätze zum Ausbruch gekommen. Platz und Rang sind im Orient eine wichtige Angelegenheit. Sei es gewesen, wie es will, der Vorfall zeugt von einer geradezu lächerlichen Kleinlichkeit und einer sehr irdischen Gesinnung und verrät, dass die Apostel das Wesentliche überhaupt nicht begriffen hatten. Und hier glaube ich, Christus etwas nachfühlen zu können – und alle Leser, die irgendwie mit Erziehung beschäftigt sind, werden dasselbe empfinden: Wenn man so erlebt, wie offenkundig alles Reden umsonst war, alles Bemühen vergebens, wenn man so gar keinen Erfolg sieht, dann breitet sich die große Lähmung aus. Es sterben in uns alle Quellen. Manche Formen von Misserfolg sind für uns wie ein Schlag. Aber wenn ich nun an den einsamen Mann denke, der da im Obergemach auf dem Sionsberg unter den streitenden Jüngern sitzt: Drei Jahre hat Er sie gelehrt, hat alles mit ihnen geteilt, ist mit ihnen übers Land gewandert und hat gesprochen, auf den Bergen und im Boot auf dem See, an langen, stillen Abenden und auf den weiten Wegen. Was hatte Er für Erfolge? Er hat sich um Menschen bemüht bis an den Rand der Erschöpfung. Tausende sind Ihm zu Dank verpflichtet. Was ist geblieben? Die zwölf hier – von denen einer ein Verräter ist und die anderen um Ränge streiten. Bedenken wir eigentlich, dass das Leben dieses einsamen Mannes Jesus von Nazareth – von außen gesehen – völlig erfolglos war? Wo Ihn die Massen umjubelten – bei der Brotvermehrung, bei Heilungen und am Palmsonntag –, da beruhte das meistens auf einem Irrtum, auf Missverständnissen. Nur kleine Lichter sind in seinem Leben aufgesteckt: eine arme Witwe, die im Tempel alles opfert, ein wirklich zerknirschter Sünder, die Dankbarkeit der Maria von Bethanien, die Begegnung mit Seiner Mutter, ein schlichter Glaube, ein Zöllner, der Unrecht gutmacht. Der große Erfolg bleibt aus. Auf bekehrte Massen hat Er umsonst gewartet.
Auch ihr müsst einander die Füße waschen Auch ihr müsst einander die Füße waschen Beim Letzten Abendmahl kam es also trotz der tiefen Ergriffenheit des Meisters zu diesem lächerlichen und peinlichen Rangstreit der Jünger.
Читать дальше