Gerade die Flüchtlinge haben hier einen besonders großen Einfluss, weil sie fast alle aus muslimischen Ländern stammen. 2015 wurden knapp 90.000 Asylanträge in Österreich gestellt. 2016 waren es rund 42.000. Als vierte Kategorie für die Hochrechnung wird schließlich noch der Wechsel des Religionsbekenntnisses geschätzt. Dieser ist, im Gegensatz zu anderen Konfessionen, wo es einen sehr deutlichen Trend zu Säkularisierung in Form von Austritten gibt, bei Muslimen nur gering verbreitet. Goujon und ihr Team gehen von einer Säkularisierungswahrscheinlichkeit von etwa fünf Prozent bei den Muslimen in Österreich aus.
Die unbefriedigende Zahlenlage im Vergleich etwa zu den Katholiken lässt sich auch durch eine simple Organisationsfrage erklären. Denn die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ), die Religionsvertretung der österreichischen Muslime, ist keine Kirche mit verpflichtender Zugehörigkeit. Zum Vergleich: Die katholische Kirche hebt von ihren Mitgliedern einen Kirchenbeitrag ein und führt daher auch ein Verzeichnis. Aus dem lassen sich sehr exakte Daten herauslesen. Auch die evangelischen Kirchen zählen ihre Mitglieder und können so recht präzise Angaben machen. Eine Aufstellung der Religionen in Österreich sieht nach wie vor eine deutliche Mehrheit an Katholiken, die 5,16 Millionen Mitglieder haben, dahinter folgen die Muslime mit rund 700.000 und die Orthodoxen mit rund 500.000 Menschen. Die letzteren Werte beruhen allerdings nur auf Schätzungen. Dahinter folgen mit 302.964 Menschen die Protestanten. Geschätzt leben rund 15.000 Juden in Österreich. Und schließlich bleiben rund 2,1 Millionen Menschen, die anderen Religionen anhängen oder konfessionslos sind.
Abgesehen davon, dass Schätzungen und exakte Zahlen gegenübergestellt werden müssen, gibt es bei den Daten für Muslime noch eine weitere Schwäche: Wie viele von ihnen wirklich gläubig sind, lässt sich aus diesen Zahlen nicht ablesen. Wie viele der geschätzten 700.000 ihren Glauben überhaupt ausleben, wie streng sie das machen und nach welchen Traditionen, das findet sich in all diesen Daten nicht. Das lässt sich zwar etwa auch bei den Katholiken nicht feststellen, doch kann man zumindest aus der Zahlung des Kirchenbeitrags eine gewisse Bindung zur Kirche herauslesen. Auf muslimischer Seite fehlt dieser Indikator. Das Bild des monolithischen Blocks aller österreichischen Muslime, die allesamt regelmäßig in die Moschee gehen und für die die Religion einen besonders hohen Stellenwert hat, ist jedenfalls nicht haltbar.
Einen Anhaltspunkt dafür liefert unter anderem „Religion im Leben der ÖsterreicherInnen 1970 – 2010“, eine 2011 veröffentlichte Langzeitstudie des Religionsforschers Paul M. Zulehner. Laut ihr gehört nur knapp jeder zweite Muslim in Österreich zur Gruppe der Praktizierenden. Rund ein Viertel zählt demnach zu den Säkularen. Religiöse Traditionen wie der Ramadan spielen aber auch bei dieser Gruppe noch eine Rolle – in Form eines Kulturislam, so wie auch säkulare Christen Feste wie Weihnachten oder Ostern feiern. Zwar liege laut der Studie die Religiosität der Muslime noch über derjenigen anderer Glaubensgemeinschaften, doch lasse sich auch hier ein Trend bemerken – dass nämlich der Glaube für die jüngere Generation einen deutlich geringeren Stellenwert hat als bei den Älteren. Vor allem bei den Zuwanderern aus Anatolien sei die Verbindung zwischen Kultur und Religion noch sehr stark. Jüngere und vor allem Frauen brechen diese Kombination zunehmend auf. Laut der Studie sind es vor allem Frauen, die ein moderneres Weltbild entwickeln und sich weg von traditionellen Rollenbildern bewegen – und die damit die Modernisierung unter den Muslimen antreiben.
Einen Trend zum säkularen Islam ortet auch „Muslimische Milieus in Österreich“, eine 2012 begonnene Langzeitstudie des „Instituts für Islamische Studien“ mit 700 Teilnehmern, die im Juni 2017 veröffentlicht wurde. Darin rechnen die Studienautoren Ednan Aslan, Jonas Kolb und Erol Yildiz rund 40 Prozent der befragten Muslime zu den eher Säkularen. Konkret ist das die Gruppe der „Kulturmuslime“, die Religiosität nur im Sinne einer kulturellen Gewohnheit lebt, und eine Gruppe, die unter „ungebundene Restreligiosität“ zusammengefasst wird. Beide Gruppen, glauben die Autoren, würden zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die anderen rund 60 Prozent der Befragten werden als religiös betrachtet – allerdings in unterschiedlicher Intensität. Rund 14 Prozent davon, zusammengefasst unter „bewahrende Religiosität“, richte ihr gesamtes Leben vorrangig nach religiösen Prinzipien aus. Knapp 27 Prozent würden eine pragmatische Religiosität leben, also etwa religiöse Rituale dem Rhythmus des Arbeitsplatzes anpassen und nicht umgekehrt. Und schließlich würden knapp 15 Prozent eine offene Religiosität leben, also individueller und weniger auf religiöse Autoritäten ausgerichtet.
Was bei aller Hinwendung zum Säkularismus in der Studie dennoch auffällt, sind Einstellungen, die die Autoren als „hoch fundamentalistisch“ bezeichnen. Dazu zählen die Autoren etwa die Wertung der eigenen Religion als höherstehend bei gleichzeitiger Abwertung anderer Religionen. Allerdings haben die Autoren zwei wichtige Anmerkungen zu diesem Begriff. Zum einen, dass sich ein Hang zur Gewalt gegenüber Nichtmuslimen aus dieser Befragung nicht herauslesen lasse. Und zum anderen, ob bei einer solchen Umfrage unter Christen nicht auch ähnliche Ergebnisse herauskommen würden. Das gilt auch für Fragen, die weniger mit Religiosität als der Lebensweise zusammenhängen. So finde es etwa ein Drittel der Befragten „sehr bedrohlich“, wenn das eigene Kind einen Partner mit anderer Religionszugehörigkeit heiraten würde.
Die Studie zeigt noch einen weiteren Aspekt des muslimischen Lebens, der in der Öffentlichkeit und in der medialen Darstellung oft vernachlässigt wird: dass nämlich nur ein geringer Teil der Befragten Mitglied in einem Moscheeverein ist – nicht einmal 20 Prozent laut der Studie. Wobei bei der Gruppe mit der „bewahrenden Religiosität“ noch rund 42 Prozent, bei den pragmatisch Religiösen rund 26 Prozent zu einem Moscheeverein gehören.
Vereine bestimmen den religiösen Alltag
Diese Vereine sind es auch, die maßgeblich den Alltag der organisierten Religiosität bestimmen. Dabei handelt es sich vor allem um ethnisch oder nach Herkunftsstaaten zusammengesetzte Organisationen, allen voran die „Türkisch Islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich“ (ATIB), den mit – je nach Angaben – 75.000 bis 100.000 Mitgliedern und mehr als 60 Vereinen größten muslimischen Verband Österreichs. Er untersteht dem staatlichen türkischen Präsidium für religiöse Angelegenheiten in Ankara. Der zweite große Player mit rund 30 Ortsvereinen ist die „Islamische Föderation“, die zur türkischen Millî Görüs-Bewegung des 2011 verstorbenen türkisch-islamistischen Politikers Necmettin Erbakan gehört. Zahlenmäßig relevant ist auch noch die türkisch geprägte „Union Islamischer Kulturzentren“ (Avusturya Islam Kültür Merkezleri Birliǧi, UIKZ), die mehr als 40 Moscheen unter ihrem Dach versammelt. Die zahlenmäßig starken türkischen Vereine sind es auch, die in der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich das Ruder übernommen haben. Zuvor war sie von der zahlenmäßig doch kleinen Gruppierung der Araber dominiert worden.
Die Araber dürften in der Bevölkerung Österreichs allerdings in den vergangenen Monaten wieder zugelegt haben – durch die Fluchtbewegungen aus Syrien und dem Irak, wenn auch nicht in der Dimension, dass sie die zahlenmäßige Dominanz der Türkeistämmigen und der Bosniaken berühren wird. Wobei die ethnische Herkunft nur ein Merkmal ist – und das muss sich nicht unbedingt in der Staatsbürgerschaft niederschlagen. Denn ein großer Teil der in Österreich lebenden Muslime sind mittlerweile österreichische Staatsbürger, ob eingebürgert oder bereits von Geburt an. Bei der Volkszählung 2001 lag der Anteil der Österreicher mit islamischem Religionsbekenntnis noch bei rund 28 Prozent. Die Schätzung des Integrationsfonds 2009 sah den Anteil der Muslime, die die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, bereits bei 49 Prozent. Ein Anteil, der in der Zukunft wohl weiter steigen wird, wenn die Einbürgerungsrate der letzten Jahre von 0,7 Prozent auf gleichem Niveau weiter praktiziert wird. Und damit auch ein Anteil, der am Ende auch als ein befürwortendes Argument für die Frage herhalten kann, ob der Islam denn nun zu Österreich gehört.
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