Mit der Zeit begann man sogar sich in Anekdoten über die Unberechenbarkeit des Kaisers zu überbieten. Vor allem seine Sprunghaftigkeit in Personalentscheidungen wurde immer auffälliger. So gab die Suche nach einer Nachfolge für Außenminister Czernin, der im Zuge der Sixtus-Affäre zurückgetreten war, Anlass für folgende groteske Situation: Karl rief Botschafter János Pallavicini in Konstantinopel an und fragt ihn, ob er das Außenministerium übernehmen würde. Pallavicini bat den Kaiser, nach Wien reisen zu dürfen, um sich über die Situation zu informieren und dann Bescheid zu geben. Karl war einverstanden und Pallavicini reiste nach Wien – inzwischen entschied sich Karl jedoch für alle völlig überraschend für Burian.36 Windischgraetz schilderte die Szene, die ihm sein Cousin Graf Berchtold erzählt hatte, folgendermaßen: In einem Salon in der Burg zu Ofen. In der Mitte des Saales stand Karl mit Tisza und Burian im Gespräch, in einer Fensternische stand der Generaladjutant des Königs, Zdenko Lobkowitz, bei der Tür stand ein Lakai. Berchtold kam herein und begrüßte Lobkowitz, der ihm im Vertrauen sagte, dass sich in diesem Salon ein Minister des Äußeren präpariere. „,Wer kann es sein‘, flüstert Berchtold zurück. ,Ich nicht‘, hauchte Lobkowitz, ,ich verstehe nichts von Politik.‘ ,Um Gottes willen‘, sagte Berchtold, ,man wird doch nicht auf mich zurückgreifen?‘ – ,Tisza ist es bestimmt nicht‘, flüsterte Lobkowitz, ,der will sich nicht aus der ungarischen Politik ausschalten lassen. Dann bleibt nur der Lakai – und eventuell Burian; der Lakai sieht ganz intelligent aus …‘ ,Ich setze zwei zu eins auf den Lakai‘, sagte Berchtold rasch; dann eben trat der Monarch auf seine beiden Hofchargen zu und sagte: ,Ich habe Baron Burian zu meinem Minister des Äußeren ernannt …‘“37 So amüsant, wie die Situation geschildert wurde, war sie natürlich nicht. Vor allem nicht für Pallavicini, der, in Wien angekommen, erfahren musste, dass die Sache hinfällig sei. Allein, dass immer offener über das Vorgehen des Kaisers gewitzelt wurde, zeigt, dass man den Kaiser zunehmend für labil und unberechenbar hielt, was definitiv kein gutes Zeichen war. Der Unmut wurde nicht nur immer größer, sondern auch immer offener ausgesprochen. So notierte Demblin: „Pallavicini wird brutal abgesagt – für die Art, wie der Kaiser desequilibriert ist, ist der ganze Vorgang charakteristisch.“38
Letztendlich sorgte Karl mit seinen überraschenden Personalentscheidungen aber „nur“ für persönliche Kränkungen und Demütigungen – wie fatal seine Überforderung und seine unvorhersehbaren Meinungswechsel für die Monarchie – und das Leben tausender Menschen – ausgehen konnten, zeigt die Tragödie um den Waffenstillstand mit Italien 1918. Nach langem Ringen mit dem Staatsrat hatte sich der Kaiser, der vehement für einen Waffenstillstand eingetreten war, durchgesetzt. Er wollte ihn zwar nicht selbst unterschreiben und hatte daher kurzerhand das Oberkommando zurückgelegt, aber er hatte sich durchgesetzt. So wurde am 3. November um 2 Uhr früh im Auftrag des Kaisers eine Radiodepesche an General Weber in Italien gerichtet, dass alle Bedingungen angenommen werden und die Truppen den Befehl erhielten, die Feindseligkeiten sofort einzustellen. Der Befehl wurde umgehend an die Heeresgruppenkommandos weitergeleitet. Um 2:30 Uhr entschied Karl jedoch, den ausgegebenen Befehl zur Einstellung des Kampfes an der Front sofort zu widerrufen. „Der Kaiser schien nun doch Bedenken zu haben, die Einstellung zu befehlen, ohne zu wissen, was die Italiener verlangen“,39 notierte Möller. Doch der Befehl war bereits an die Truppen ausgegeben und konnte nicht mehr zurückgenommen werden.
Das Thronfolgerpaar mit Sohn Otto beim Begräbnis von Kaiser Franz Joseph, 30. November 1916.
Da die Italiener erst später antworteten, dass sie ab der endgültigen Unterzeichnung 24 Stunden benötigten, um den Befehl zur Einstellung der Kampfhandlungen weiterzugeben – die Österreicher dies allerdings längst getan hatten –, betrug die Zeitdifferenz zwischen der österreichischen und der italienischen Einstellung 36 Stunden. In dieser Zeit rückten die Italiener vor und nahmen ohne einen Schuss 427.000 Mann gefangen.
Später rechtfertigte sich Karl für dieses Fiasko, dass der Waffenstillstand ein Trick der Italiener gewesen wäre, da „zum Zeitpunkt, als wir den Waffenstillstand anbefahlen, die italienischen Durchführungsbestimmungen mit der Zeitangabe des Einstellens der Feindseligkeiten noch nicht in Schönbrunn eingetroffen“40 waren. Bei aller Berücksichtigung der Hektik dieser Tage stellt sich schon die Frage: Hatte der Kaiser tatsächlich einen Waffenstillstand unterzeichnen und dann umgehend die Niederlegung der Waffen an die Front telegrafieren lassen, ohne den Zeitpunkt des Inkrafttretens zu kennen oder vereinbart zu haben? Fakt ist, dass eine solche „Panne“, die für zigtausend Soldaten Kriegsgefangenschaft bedeutete, Karls Führungsqualitäten mehr als in Frage stellt.
Viel zu lange bemühte sich sein Umfeld, den Kaiser in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Wo er auftauchte, wurden Jubel und Begeisterung inszeniert, und der Kaiser wähnte sich populär und die Bevölkerung trotz größter Entbehrungen positiv gestimmt. Die Realität sah bereits ganz anders aus und kritische Stimmen mehrten sich, die gerade darin eine große Gefahr sahen. So notierte Baernreither im April 1918 besorgt in seinem Tagebuch: „Gerüchte, Geschichten, Tratsch wuchern. K(aiser) und K(aiser)in in den Mittelpunkt … Ovationen f. K(aiser) und K(aiser)in gemacht. Einige hundert Detektive und gemietete Menschen winken mit weißen Sacktüchern. Selbst Hohenlohe äußert sich, es sei unverantwortlich, die Majestäten so zu täuschen.“41
Wie abgeschottet der Kaiser lebte und wie stark er vor allem in den letzten Monaten der Monarchie den Bezug zur Realität verloren hatte, geht aus zahlreichen Tagebucheintragungen hervor. Während den Politikern und selbst Aristokraten die militärische Niederlage und der damit verbundene Zusammenbruch der Monarchie schon klar waren und sich alle um die Zukunft Gedanken und Sorgen machten, sorgte der Kaiser mit guter Laune für Irritation. Daran war vor allem sein engstes Umfeld schuld, wie Redlich am 22. Oktober konstatierte: „Der Kaiser und die Kaiserin sind bis vor zwei Tagen guter Laune gewesen: sie haben sich durch Seidler (Ministerpräsident Ernst Seidler von Feuchtenegg) täuschen lassen, da sie diesem elenden Dummkopf vollkommen vertrauten.“42
Doch schließlich dämmerte es auch Karl: Der Untergang zeichnete sich ab und die Monarchie war in größter Gefahr. Aber Karl hatte nicht mehr die Kraft zu kämpfen. Je hektischer um ihn herum alle agierten, desto apathischer wurde der Kaiser. Besprechungen um dringende Entscheidungen verliefen für die Politiker absolut frustrierend. Lammasch war zum Kaiser, der sich bezeichnenderweise ausgerechnet jetzt nach Reichenau zurückgezogen hatte, gefahren, um mit ihm die dringende Antwort auf Wilsons Telegramm – de facto die Formulierung der Kapitulation – zu besprechen; er berichtete, „daß er zwei Stunden dem Kaiser vorgetragen habe, daß dieser zerstreut zuhörte, meinte, ja, er wisse, wie gefährlich die Lage sei, schließlich aber erklärte, er werde einige Tage überlegen“.43 Lammasch stellte schockiert fest, „offenbar hat der Kaiser die Entschlusskraft ganz verloren!“.44
Ähnlich resigniert erlebte ihn Josef Redlich, als er einige Tage später, am 27. Oktober, zum neuen Finanzminister ernannt wurde. Seine Antrittsaudienz beim Kaiser schilderte er schonungslos: „Ich blieb 20–25 Minuten beim Kaiser, der schlecht aussieht, bleich, kleines Gesicht. Er sprach über alles mögliche, streifte die Finanzen nur, über deren Hoffnungslosigkeit er sogar zu lächeln sich anschickte … Der junge Herr spricht leicht, aber man hat nicht das Gefühl, daß die großen Dinge ihn wirklich innerlich anders berühren als das tägliche Leben. Keine Nuancen im Sehen und Beurteilen der Vorgänge: Regentenlos.“45
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