Ihre Augen gefielen mir auch nicht. Manchmal kamen sie ihr aus dem Kopf gequollen, als ob sie auf dem elektrischen Stuhl säße, dann wieder kugelten sie in den Höhlen herum wie Murmeln in einem Becher.
Wie schon gesagt, Freundlichsein ist harte Arbeit, aber das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass ich Angst hatte, sie könnte sterben. Ich hatte keine Ahnung, wie ich eine Leiche in meinem Hänger erklären sollte. Mit ein Grund dafür, dass ich wie eine Ratte mit juckendem Schwanz durch die Gegend raste, war also auch der, dass ich sie wenigstens so lange am Leben halten wollte, bis ich sie am Morgen irgendwie loswerden konnte.
Aber am Morgen, gleich nachdem ich die Hunde gefüttert und in den Zwinger gesperrt hatte, trank Goldie ein paar Schluck Wasser, behielt sie bei sich und schlief ein. Bevor sie einschlief, sah sie mich an, als ob wir uns noch nie begegnet wären, und sie sagte: »Danke.«
Nur danke, sonst nichts. Aber wegen der Art, wie sie es sagte, so als ob sie es wirklich ernst meinte, hatte ich es nicht mehr so eilig, sie loszuwerden.
Ich machte auf dem kleinen Gaskocher Wasser heiß und kochte mir einen Tee. Dann setzte ich mich zu ihr aufs Bett und sah zu, wie sie schlief. Mir zitterten die Hände, und es tat mir hinten im Hals weh. Ich dachte, ich hätte mich angesteckt.
Schließlich warf ich im Wohnzimmer die Polster vom Sofa auf den Boden und legte mich schlafen. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und ich war müde.
Ich träumte, Simone und ich wären wieder in der Schule – genauer gesagt, in einem Erziehungsheim, in die wir im wirklichen Leben immer gesteckt wurden. Und wir beschlossen abzuhauen – genau, wie wir es im wirklichen Leben immer gemacht hatten. Wir kamen an eine Mauer, und Simone sagte: »Nein, ich kann nicht. Das ist zu hoch. Wir kriegen Ärger.« »Ärger haben wir jetzt schon genug«, sagte ich. »Komm, ich mach dir eine Räuberleiter.« Sie stellte einen Fuß in meine Hände, und ich sah, dass sie weiße Satinpantöffelchen trug, die mit kleinen roten Edelsteinen besetzt waren. »Wo hast du denn die Schuhe her?«, fragte ich. Und ich hievte sie auf die Mauer. »Das sind meine gläsernen Schuhe«, sagte sie. Und während ich noch dastand, fielen die kleinen roten Edelsteine wie Regentropfen herunter, und ein paar verfingen sich in meinen Haaren. Ich bückte mich danach, weil Simone sehr eigen war, wenn es um ihre Schuhe ging. Aber auf einmal wurden sie ganz flüssig. »He!«, rief ich. »Du blutest.« Ich sah hoch und merkte zum ersten Mal, dass die Mauer oben mit Stacheldraht gesichert war. Und Simone hing darin fest. Ich wollte hinter ihr herklettern, um ihr zu helfen, aber die Mauer war höher geworden. Mir konnte keiner eine Räuberleiter machen. Also blieb sie, wo sie war, und ich blieb, wo ich war, mit Blut in den Haaren. Ich hasse Träume.
Es war komisch, aufzuwachen und zu wissen, dass jemand in meinem Schlafzimmer lag. In all den Monaten, die ich schon hier wohnte, hatte außer mir kein Mensch den Hänger betreten. Ich schaute zu ihr rein, aber Goldie war immer noch k. o. Sie hätte tot sein können. So ruhig lag sie da. Aber bei jedem Ausatmen flatterte eines ihrer Goldlöckchen. Ich war erleichtert.
Ich machte die Schlafzimmertür fest zu. Ich hatte einiges zu erledigen, bei dem ich keine Zeugen gebrauchen konnte.
Gestern Abend waren mir zwar nur ein paar Brieftaschen in die Hände gefallen, aber ich wollte nicht, dass jemand einen falschen Eindruck von mir bekam. Ich bin keine Diebin. Eigentlich nicht. Ich kann mir nur manchmal eine günstige Gelegenheit nicht entgehen lassen, und die Leute sind ja auch so unvorsichtig. Du würdest es kaum glauben, wie unvorsichtig manche Leute sein können. Sie hängen ihre Jacke über die Stuhllehne, obwohl die Brieftasche rausguckt. Sie stellen ihre Handtasche auf den Boden, wo sie sie nicht im Auge behalten können. Sie sind verrückt. Wenn du etwas hast, was du behalten willst, musst du um Himmels willen auch darauf aufpassen. Wenn du nicht darauf aufpasst, zeigst du damit Leuten wie mir nur, dass du es nicht willst. Und wenn du es nicht willst, nehme ich es mir. So einfach ist das.
Wenn du was von meinen Sachen haben willst, musst du mich erst umbringen. Das ist auch einfach.
Die Beute auszusortieren war nicht besonders schwer. Ich interessiere mich nur für Knete. Plastik finde ich zum Kotzen. Ich weiß, dass es auch dafür Abnehmer gibt – genau wie für Führerscheine –, aber auf so was habe ich keinen Bock. Ist schon lästig genug, den restlichen Krempel loszuwerden, ohne dass er zu mir zurückverfolgt werden kann.
Die Knete steckte ich ein. Schon war nur noch ein kleiner Stapel Brieftaschen übrig. Normalerweise wären die mir nie in den Hänger gekommen. Sie wären auf dem Heimweg im Abfalleimer gelandet. Aber normalerweise rette ich auch keine Goldies – so was bringt einen aus dem Konzept.
Ich überlegte noch, da klopfte es plötzlich an der Tür, und ich wäre fast aus der Haut gesprungen vor Schreck. Kein Mensch klopft bei mir an.
Auf dem Boden lagen noch die Polster, auf denen ich geschlafen hatte, und zuerst wollte ich die Brieftaschen darunter verstecken. Aber dann erinnerte ich mich an Ma, und mir wurde schwummerig. Also stopfte ich sie hinter den Gasofen.
Es klopfte noch einmal.
Eigentlich hätte ich vorsichtig durch die Gardine lugen sollen, aber die Klopferei machte mich sauer, also tat ich genau das Falsche. Ich riss die Tür auf und brüllte: »Ja?«
Nie im Leben hätte ich die Tür aufmachen sollen, denn nun stand ich Auge in Auge der Bullentante von gestern Abend gegenüber.
»Tag«, sagte sie und lächelte. Da wurde ich erst richtig misstrauisch. Wer überleben will, darf der Polizei nie vertrauen, wenn sie lächelnd daherkommt. »Eva?«, sagte sie. »Eva Wylie?«
»Falsch verbunden«, sagte ich und knallte die Tür zu.
Sie klopfte noch einmal. Ich überhörte es. Ich linste durch die Gardine. Sie stand ein Stückchen weiter weg und wartete. Sie sah relaxt und munter aus.
Warte noch ein bisschen, dachte ich, dann wird dir das Lachen schon vergehen. Ich bin ein sehr geduldiger Mensch, aber langsam wurde ich richtig giftig.
Ich schmierte mir Margarine auf ein paar Scheiben Brot und schraubte das Marmeladenglas auf. Ich hatte noch nicht gefrühstückt, wahrscheinlich war mein Blutzuckerspiegel zu niedrig. Davon werde ich auch giftig. Harsh sagt, ein Athlet muss darauf achten, dass der Blutzuckerspiegel immer gleich hoch ist, und das versuche ich auch. Aber wenn du allein lebst, kann man es schon mal vergessen.
Die Bullentante klopfte schon wieder. Ich aß drei Marmeladenbrote. Ich konnte länger warten als sie, und den ganzen Tag konnte sie sich da draußen wohl kaum die Beine in den Bauch stehen.
Als ich das nächste Mal durch die Gardine spähte, redete sie mit ein paar Arbeitern. Sie lachten. Das machte mich fuchtig.
Ich riss die Tür auf und baute mich mit verschränkten Armen auf der Treppe auf.
»Ja?«, sagte ich, total cool. Wahrscheinlich hätte ich noch beeindruckender gewirkt, wenn ich das letzte Marmeladenbrot schon verdrückt gehabt hätte, aber in einer Krise kann man nicht an alles denken.
»Tut mir leid, wenn ich Sie beim Nachmittagstee störe«, sagte sie und kam näher.
»Wie spät ist es denn?«, sagte ich.
Sie machte ein überraschtes Gesicht, aber sie sagte: »Zwanzig nach vier.«
Das war ein Hammer. Ich hatte verschlafen. Ich hätte eher auf zwei getippt.
»Ich suche Eleanor Crombie«, sagte sie.
»Wen?«
»Eleanor Crombie. Sie haben sie gestern Abend aus dem Club mitgenommen.«
»Ach, die«, sagte ich. So hieß Goldie also mit richtigem Namen. Passte wie die Faust aufs Auge. Sie sah aus wie eine Eleanor.
»Und?«, sagte die Bullentante.
»Was und?«
»Wo ist sie?«
»Wer will das wissen?« Ich wollte die Hände in die Hüften stemmen und mich einschüchternd in Positur werfen, aber mir kam das Marmeladenbrot dazwischen. Also aß ich es lieber.
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