Danach haben die anderen Kinder jedes Gummiband gesammelt, das sie in ihre dreckigen Pfoten kriegen konnten.
»Was hast du?«, fragte Simone. »Du machst so ein grimmiges Gesicht.«
»Nichts«, sagte ich. »Ich musste nur gerade an den Jungen denken, der Angst vor Gummibändern hatte. Ich hätte zu gern gewusst, was aus ihm geworden ist.«
»Aber das weißt du doch«, sagte Simone. »Du hast doch gesehen, was aus ihm geworden ist. Er hat sich an einem Kleiderhaken erhängt. Wir haben es alle gesehen. Mit einem Gürtel. Und die großen Kinder haben gelacht und gesagt, es hätte eigentlich ein Gummigürtel sein müssen. Aber er war aus Leder.«
»Ja, stimmt«, sagte ich. Aber ich konnte mich nicht erinnern. Man sollte doch meinen, dass ich mir so eine Geschichte gemerkt hätte. Aber ich wusste nichts mehr davon.
Dafür erinnerte ich mich noch gut daran, dass ich einmal mitten in der Nacht in Simones Schlafsaal geschlichen war und gesagt hatte: »Ich will nach Hause.« Worauf sie sagte: »Das geht doch nicht.« Aber ich habe sie überredet mitzukommen. Das war das erste Mal, dass wir zusammen ausgerückt sind. Aber sie haben uns wieder zurückgeholt. Natürlich habe ich es trotzdem noch mal versucht. Und noch mal. Und noch mal.
Ich ging an die Theke, um uns was zu trinken zu holen. Eine Weißweinschorle für sie – was das nun schon wieder war – und ein großes Bier für mich. Während ich wartete, kippte ich noch schnell einen Rum, für die Nerven und gegen die Kälte.
»Ach, Eva«, sagte sie, als ich mich wieder zu ihr an den Tisch setzte. »Du musst mir alles erzählen. Ich fühle mich so …«
Ja, wie fühlte sie sich wohl? Ins Abseits gestellt? Traurig, weil wir so viel Zeit verloren haben? Ängstlich? Nein, ängstlich nicht. Ich kenne keine Angst. Aber der kleine runde Tisch zwischen uns kam mir wie der Nordpol vor, wie eine kilometerdicke Eisschicht über kilometertiefem Wasser, und ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, Simone wieder dahin zurückzubringen, wo wir aufgebrochen waren. Ich wollte sie wiederhaben. Jetzt hatte ich sie wieder, aber es war, als ob ich ihr über das Eis hinweg zuwinkte, über die Zeit hinweg, in der sie nicht bei mir sein konnte. Es sollte wieder wie früher sein, als wir uns bei Gewitter zusammen unter dem Bett verkrochen und uns zusammen zur Hintertür rausgeschlichen hatten. Wir zwei gegen den Rest der Welt, gegen das Universum.
Meine Zunge fühlte sich wie ein Schaumgummipfropfen an.
»Wie bitte?«, fragte sie.
»Nichts«, sagte ich. »Ich bin Catcherin geworden. Ich bin die Größte und Beste von allen. Ich habe sogar einen Privattrainer. Du musst dir unbedingt mal einen Kampf von mir ansehen. Ich besorge dir Plätze direkt am Ring. Der Promoter ist ein Freund von mir. Er behandelt dich wie eine Königin, wenn er weiß, dass du meine Schwester bist. Für meine Schwester ist das Beste gerade gut genug.«
»Ich würde dich gern einmal kämpfen sehen«, sagte sie. »Aber sicher. Ach, Eva, du brauchst doch nicht gleich so aus dem Häuschen zu sein. Natürlich komme ich. Ist ja schon gut. Alles ist gut.«
»Natürlich ist es gut«, sagte ich. »Es ist bloß … Es ist bloß, ich habe etwas aus mir gemacht, Simone. Ich habe es geschafft.
»Aber ja«, sagte sie. »Ich bin stolz auf dich.«
Da. Sie hatte es gesagt. Was ich hören wollte. »Ich bin stolz auf dich.« Einfach so.
»Möchtest du noch so ein Weißweindingsbums?«, fragte ich und ging zur Bar.
Diesmal bediente mich die Wirtin. Als ich mir noch einen Rum hinter die Binde goss, sagte sie: »Trink nicht so viel, Eva.
Wenn du dich wieder so aufführst wie letzte Woche, setze ich dich vor die Tür. Ehrenwort. Mein Mann hat dich schon im Visier.«
»Wie habe ich mich denn aufgeführt?«, sagte ich. »Dein Alter soll lieber die Klabusterbeeren ins Visier nehmen, die dir aus dem Hintern wachsen. Was geht mich dein Alter an?«
»Hüte deine Zunge, Eva. Sei froh, dass ich so ein Gemütsmensch bin. Wenn ich nicht so eine Engelsgeduld mit dir hätte, hättest du schon seit Monaten Lokalverbot.«
»Sie können mich nicht einfach rausschmeißen«, sagte ich. »Mein Geld ist so gut wie jedes andere.«
»Wo wir gerade beim Thema sind«, sagte sie. »Wo …?« Aber ich wollte nichts mehr hören. Diese verschrumpelten Quatschtanten haben immer noch ein anderes Thema auf Lager. Die geben nie Ruhe.
Als ich wieder an unseren Tisch kam, saß ein Geschirrverkäufer vom Markt auf meinem Platz. Er wollte Simone anbaggern. Kein Wunder eigentlich, aber es passte mir trotzdem nicht, und ich sagte: »Verpiss dich, du Scheich. Musst du nicht langsam nach Hause zu deiner Frau?«
Er sagte: »Wie kommst du denn zu so einem Prachtexemplar von Schwester, Eva?«
Ich sagte: »Zieh Leine, Missgeburt.« Aber insgeheim freute ich mich, weil Simone zu mir gestanden hatte. Wenn sie nach unserer Ma geraten wäre, hätte sie das nie gemacht. Ma gibt ja nie freiwillig zu, dass sie mit mir verwandt ist.
»Männer«, sagte Simone, nachdem er sich verkrümelt hatte. »Immer wollen sie was von einem.«
»Bist du verheiratet?«, fragte ich. Keine Ahnung, wie ich darauf kam. Kaum zu glauben, dass ich nicht wusste, ob meine Schwester verheiratet war.
»Tja …«, sagte sie, und ich hielt den Atem an. Ich wollte nicht, dass sie verheiratet war. Ganz und gar nicht.
»Ich war mal verheiratet«, sagte sie. »Aber die Ehe ging in die Brüche.«
Ich war vielleicht froh, das können Sie mir glauben. Ich wollte sie nicht wieder zurückhaben, nur um sie dann mit jemand anderem teilen zu müssen.
»Nach ein paar Monaten war alles schon wieder vorbei«, sagte sie.
»Wie kam das?«, fragte ich.
»Es ging einfach nicht«, sagte sie. »Es war ein Fehler. Ich bin nicht zum Hausmütterchen geboren.«
»Und wozu bist du geboren?« Es war wirklich merkwürdig. Als wir noch zusammen waren, hätte ich sie so etwas nie fragen müssen. Sie war zu etwas Besserem geboren, das stand fest. Jeder mochte sie. Sie hätte werden können, was sie wollte, außer vielleicht Gehirnchirurg – in der Schule waren wir beide nicht die Besten.
»Ach«, sagte sie. »Ich habe Verschiedenes ausprobiert. Aber es war schwer. Meine andere Familie …«
»Ja?«
»Ruhig, Eva«, sagte sie. »Es lässt sich nicht ändern. Du weißt, dass wir nichts dagegen machen konnten. Wir waren noch Kinder. Wir mussten dahin gehen, wo man uns hingeschickt hat.«
»Aber deshalb musstest du dich noch lange nicht adoptieren lassen«, sagte ich. »Du musstest nicht für immer zu ihnen gehen. Dazu hat dich keiner gezwungen.«
»Es gibt solche und solche Zwänge.«
»Was soll denn das wieder heißen?«
»Ach, Eva«, sagte sie. »Schrei mich nicht an. Bitte, schrei mich nicht an. Ich kann es nicht ertragen, wenn du mich anschreist.«
Das stimmte. Sie musste immer weinen, wenn sie angeschrien wurde. Deshalb hat sie auch nicht halb so viele Schläge kassiert wie ich. Man brauchte sie bloß anzuschreien, damit sie anfing zu weinen.
»Du musstest nicht für immer zu ihnen gehen«, sagte ich.
»Sie hatten Teppiche auf dem Fußboden«, sagte sie. »Und Zentralheizung. Ich bekam ein eigenes Zimmer. Sie wollten mich. Sie haben mir ein Zuhause gegeben, Eva.«
»Ich wollte dich auch«, sagte ich. »Und ein Zuhause hattest du schon.«
»Nein«, sagte sie.
»Doch«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie. »Und du auch nicht. Sei doch mal ehrlich. Und schrei mich nicht an. Wenn du mich anschreist, gehe ich.«
»Wir hatten uns«, flüsterte ich. Mir hatte das genügt. Warum war es für sie nicht genug gewesen? Ich brauchte keinen Teppichboden, wenn ich sie hatte.
»Wir hatten immer nur Ärger, waren ständig auf der Flucht.«
»Aber wir waren zusammen. Es war schön, wenn wir zusammen waren.«
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