Noch etwas war anders. Wenn ich von ihr träumte, war sie ein kleines Mädchen und ich war die Londoner Killerqueen. Ich sonnte mich in meinem Erfolg. Ich war berühmt. Stark. Beliebt. Ich saß nicht in einer öligen Pfütze auf dem Hintern. Das gehörte nicht zu meinem Traum. Weiß Gott nicht.
Also machte ich die Augen wieder auf. Auf der anderen Seite des Tors standen zwei kleine Stöckelschuhe. Und darin stand Simone, auf die es Diamanten regnete. Ich sagte: »Bist du es wirklich?«
Ich schloss ihr das Tor auf. Ich vergaß, die Hunde aus dem Zwinger zu lassen. Zum ersten Mal in meinem Leben vergaß ich die Hunde.
In meinen Träumen hatte Simone auch immer gesagt: »Eva, bist du es wirklich?« Deshalb wusste ich, dass sie es war.
Aber der Hänger war die reinste Müllkippe. Es fiel mir erst auf, als sie reinging. Das war in meinen Träumen auch nicht so gewesen. Im Traum war alles tipptopp aufgeräumt, damit sie gleich sehen konnte, wie gut es mir ging.
»Ich konnte meine Zahnbürste nicht finden«, sagte ich.
»Macht nichts«, sagte sie. »Lass dich einmal ansehen.« Also beguckten wir uns erst mal gründlich. Wir hatten nicht viel Licht, nur von der Taschenlampe und meiner Petroleumlampe. Ich habe nämlich etwas gegen Stromrechnungen. Also musste ich ganz genau hinsehen. Je mehr Zeit ich mir nahm, desto mehr erinnerte sie mich an die alte Simone. Aber es war komisch – als würde sich die erwachsene Frau vor meine alte Simone drängen. Ich hätte diese Frau am liebsten weggeschubst. »Verzieh dich«, wollte ich zu ihr sagen. »Du stehst vor meiner Schwester.«
Sie reichte mir kaum bis zum Kinn. Kein Wunder eigentlich, sie war schon immer kleiner gewesen als ich, obwohl sie ein Jahr älter war. Aber vom Gesicht her hatte sie sich verändert. Früher hatte sie ein Elfengesicht gehabt, große blaue Augen, die unter seidigem Haar hervorblickten. Die Augen waren das Erste, was einem an ihr auffiel, weil sie so dunkel waren, vor allem im Vergleich zu ihrer blassen Haut und den silbrigen Haaren. Sie hatte ein kleines Gesichtchen. Als Kind schien ihr Gesicht mich immer um Hilfe zu bitten. Und ich hatte ihr geholfen. Ich habe auf sie aufgepasst und sie mitgenommen, wenn ich mal wieder ausgerückt bin.
Aber jetzt hatte sie viel zu viel Farbe im Gesicht. Die blassen Backen waren rosa geschminkt, der helle Mund knallrot.
Augenlider und Wimpern waren schwarz angemalt, die Haare golden gefärbt. Meine Simone war zwar immer noch da, aber sie trug eine Erwachsenenmaske, und ich konnte nicht mehr erkennen, was ihr Gesicht mir sagen wollte. »Eva«, sagte sie. »Du bist so groß und stark geworden.«
»Ja.« Ich drehte mich weg. Ich wusste einfach nicht, was sie nach all den Jahren in mir sehen wollte. Womöglich gefiel ihr nicht, was sie sah. Schon früher hatten sie uns die Schöne und das Biest gerufen. Und an diesem Abend war ich nicht besonders gut drauf. Ich wollte mich von meiner besten Seite zeigen, so wie im Traum bei unserer ersten Begegnung, aber ich konnte meine Zahnbürste nicht finden.
Ich konnte auch nicht still stehen. Mein Herz hüpfte wie Spucke auf einer heißen Herdplatte. Ich wollte ihr so viel sagen, aber es verhedderte sich in mir. Es wollte nicht heraus.
Bevor ich daran erstickte, sagte ich: »Wie hast du mich gefunden?«
»Durch Mutter«, sagte sie.
»Durch wen?«, sagte ich.
»Unsere Mutter«, sagte sie.
»Ma?« Ich verstand nicht, dass sie das Wort »Mutter« für unsere Ma benutzte.
»Ja«, sagte sie. »Ich habe mich eine Zeitlang im Ausland aufgehalten, und als ich zurückkam, wollte ich mich mit dir in Verbindung setzen. Meine andere Mutter wusste, wo unsere Ma wohnte. Sie hat ihr manchmal Fotos von mir geschickt.« Noch ein riesiges Gesprächsthema. Damit kam ich überhaupt nicht klar. Ihre andere Mutter. Warum hatte sie sich adoptieren lassen? Früher war sie für mich eine Verräterin gewesen, weil sie sich hatte adoptieren lassen. Dabei war sie noch ein Kind gewesen und hatte wahrscheinlich gar keine andere Wahl gehabt. Ich verzieh ihr. Fast. Ich durfte nur nicht daran denken.
»Ich bin Catcherin«, sagte ich.
»Catcherin?«, sagte sie. Ich konnte nicht erkennen, ob das Gesicht hinter der Maske »Spitze« oder »Scheiße« sagte.
»Hat Ma dir das nicht erzählt?«
»Ich habe ihr nur mit Mühe und Not deine Adresse abschwatzen können«, sagte sie. »Sie ist nicht sehr hilfsbereit, hm?«
»Hilfsbereit!« In meiner Brust machte es peng, und dann saß ich schon wieder auf dem Hintern. »Ich beknie sie seit Jahren«, sagte ich. »Seit Jahren. Seit Ewigkeiten. Ich war immer überzeugt, dass sie wusste, wo du wohnst. Aber meinst du, sie hätte es mir gesagt? Sie hätte sich lieber eine hungrige Ratte in den Schlüpfer gesteckt. Nenn das Weib nicht Mutter. Sie ist keine Mutter.«
»Ach, Eva«, sagte sie. »Nimm’s nicht so schwer.« Sie gab mir ein Taschentuch. »Jetzt sind wir doch wieder zusammen.«
Zusammen hatte sie gesagt. Das hätte mir fast den Rest gegeben. Ich putzte mir die Nase.
»Wir wollen uns das Wiedersehen nicht durch Ma verderben lassen«, sagte sie. »Komm, gehen wir etwas trinken. Gehen wir feiern.«
Der richtige Satz zur rechten Zeit. Ich konnte es kaum erwarten, vom Schrottplatz zu kommen. Seit Simone da war, kam es mir wirklich so vor, als ob ich auf einer Müllhalde wohnte. Außerdem hatte ich Durst, und ich brauchte eine kleine Stärkung.
Sie fand meine wattierte Jacke. Das machte mich irgendwie traurig. Ich hatte mir immer vorgestellt, wenn wir uns eines Tages wiederfänden, würde ich ihr helfen und nicht umgekehrt. Außerdem hätte ich es lieber gesehen, wenn es meine schöne Lederjacke gewesen wäre, die Motorradjacke mit den vielen Fransen und Schnallen, die ich irgendwo verloren hatte. In der Jacke machte ich etwas her, darin sah ich nicht so aus wie »Made in Taiwan«.
Weil die Regentropfen wie Pistolenkugeln vom Himmel prasselten, zogen wir den Kopf ein und rannten die Mandala Street hoch bis zum Fir Tree Pub. Erst als wir ankamen, fiel mir wieder ein, dass Simone ein Auto hatte. Aber sie schüttelte bloß die Tropfen aus den Haaren und lachte. »Das habe ich vor lauter Aufregung ganz vergessen«, sagte sie. »Weißt du noch, dass ich mich als Kind vor Gewittern gefürchtet habe? Wir haben uns immer unter dem Bett versteckt. Dabei hattest du gar keine Angst.«
»Nein«, sagte ich. »Ich kann Blitz und Donner gut leiden.« Das stimmt. Das war schon immer so. Ich mag es, wenn es rumst und kracht. Früher mochte ich es sogar noch mehr. Wenn das Wetter echt beschissen war, konnte Ma keine Kerle anschleppen, und wenn wir aufwachten, torkelten keine besoffenen Penner im Netzunterhemd und mit der Kippe im Mundwinkel durch die Wohnung. Und wir brauchten nicht die Geräusche zu hören, die wir so hassten. Aber daran wollte ich jetzt nicht denken.
»Hast du dich eigentlich noch nie vor etwas gefürchtet?«, fragte Simone. »Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass du irgendwann Angst hattest.« Da fühlte ich mich wieder groß und stark. Weil Simone mich richtig in Erinnerung hatte. Fast richtig zumindest. Wenn ich mich früher tatsächlich einmal gefürchtet hatte, wäre ich lieber gestorben, als es zuzugeben. Wer sich seine Angst anmerken ließ, wurde fertiggemacht. Als wir noch sehr klein waren und das erste Mal ins Heim gesteckt wurden, war da ein Junge, der eine panische Angst vor Gummibändern hatte. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich verstehe es selber nicht, dass man sich davor fürchten kann. Nicht zu glauben, eigentlich. Was soll denn an einem Gummiband so schrecklich sein? Aber dieser Junge fing schon an zu schlottern, wenn er nur durchs Fenster eins gesehen hat. Und er war so blöd, sich seine Angst anmerken zu lassen, und da haben die anderen Kinder … Den Rest können Sie sich denken. Er hat die Gummibänder überall gefunden, in seinen Hosentaschen, im Bett, im Essen. Als er es nicht mehr aushalten konnte, ist er abgehauen. Aber sie haben ihn eingefangen und wieder zurückgebracht, in unser trautes Kinderheim.
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