Noch in der Nacht gab es eine erste Presseerklärung der Konzernleitung, die den Vorfall zutiefst bedauerte. Man sprach von einem großen Unglück und versicherte, die Sache schonungslos aufzuklären.
Doch schon zwei Tage später veröffentlichte das Bergbauministerium des Landes eine offizielle Stellungnahme, dass es sich um einen bedauerlichen Unfall gehandelt habe und kein Grund für eine weitere Untersuchung bestehe. Und da nun niemand Schuld an dem Ereignis trug, gab es auch keinerlei Hilfe für die Hinterbliebenen der getöteten Arbeiter.
*
Während die Nachrichten die ersten Bilder vom Schauplatz der Katastrophe brachten, setzte am anderen Ende der Welt der junge Cellist Andrej Majinski seinen Bogen in einer feinen Bewegung auf die Saiten seines Instruments und strich den ersten Ton der d-Moll-Sonate von Schostakowitsch – ohne zu ahnen, welche Bedeutung das Werk in seinem Leben noch bekommen sollte.
Dmitri Schostakowitsch Sonate für Violoncello und Klavier in d-Moll
Moderato
BEDROHUNG
Schostakowitsch verlangt ein sehr genaues Hören. Wirkt das Geschehen an der Oberfläche harmlos und gefällig, führt es in Wahrheit erbarmungslos in ein unabwendbares Schicksal ohne jegliche Seele.
In der Reprise entsteht eine dunkle Leere – kein Ausweg, alles scheint vergeblich, ein Aufbäumen sinnlos. Was bleibt sind Hüllen hohler Klänge, die an einen resignierenden Totengesang erinnern.
Die Schritte des jungen Mannes auf dem kalten Steinboden hallten laut, brachen sich an den hohen Wänden, überholten ihn und eilten ungeduldig voraus durch den endlos langen Korridor. Sein Gang hatte etwas Angespanntes, klang betont dringend, so als könnte er sein Tempo nur schwer kontrollieren und würde jeden Augenblick zu laufen beginnen.
Die fensterlosen Flure in dem Gebäude waren eintönig mit stumpfer graugelber Ölfarbe gestrichen und von der Decke aus mit nackten Neonbalken beleuchtet, die den Weg in abgezirkelte helle und dunkle Segmente zerteilten. Eine Abwechslung gab es nur, wenn eine der Leuchtröhren flackerte und die Monotonie des Anblicks mit unvermittelt bizarren Lichtblitzen zerriss.
Fast am Ende des Ganges angelangt, wandte sich der junge Mann nach rechts, wo eine schmale Abzweigung war, die zu einer einzelnen Tür führte. Vor der blieb er stehen, holte noch tief Luft, um seine Kurzatmigkeit zu beherrschen, und klopfte dann heftig. Gleichzeitig drückte er, ohne eine Aufforderung zum Eintreten abzuwarten, die Tür zum Ruheraum des diensthabenden Offiziers auf.
»Iswinitje!«, sagte er halblaut. Entschuldigung. Dabei bemühte er sich, die Stimme ruhig und bestimmt in das Dunkel klingen zu lassen.
Drinnen hob sich langsam ein Kopf von einer Pritsche und blinzelte in den unangenehm grellen Lichtschein, der durch den Türspalt ins Zimmer fiel.
»Schto?«, fragte eine Stimme dazu verschlafen. Was?
Der junge Mann richtete sich kerzengerade auf.
»Eine Nachricht, Herr Oberst!« Er war ausgebildeter Kryptograf, Absolvent der Militärakademie und arbeitete erst wenige Wochen in dem geheimen Dechiffrierbüro, wo alle externen Informationen, die den Staat oder die Regierung betrafen, zusammenliefen und nach strengsten Sicherheitskriterien überprüft wurden.
»Eine Nachricht?«, wiederholte der Oberst seinen jäh aufwallenden Zorn unterdrückend. »Da weckst du mich, Anatoli? Jede Minute kommen irgendwelche Meldungen!«
»Solche nicht!«
»Was soll das heißen?« Der Diensthabende schlug die Decke zurück, knipste das Licht an und setzte sich auf.
»Sie ist nicht chiffriert!«
»Bist du betrunken?«
Anatoli schüttelte den Kopf und deutete ein wenig hilflos in Richtung des allgemeinen Nachrichtenraumes, wo er einige Monitore zu überwachen hatte. »Bitte, Oberst, überzeugen Sie sich selbst.«
Der stand mit einem unwilligen Laut auf und deutete dem Untergebenen mit einer knappen Handbewegung, er solle die Tür schließen. »Warte, ich komme in einer Sekunde.«
Als der junge Mann draußen war, ging er durch den schmalen Raum zu einer Waschgelegenheit. Dort schaufelte er sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins schlaftrunkene Gesicht, um den Kopf klar zu bekommen, frottierte sich ab und richtete den Kragen seines Hemdes. Immer noch sicher, dass der Neue einem Irrtum aufgesessen sei, nahm er mürrisch sein Sakko vom Stuhl.
Mit eiligem Schritt gingen sie durch die Gänge zurück zum Hauptgebäude. Rechts und links befanden sich enge Türen mit kleinen Glasfenstern in der Mitte, die zu Räumen klein wie Kammern führten, in denen die Analysten saßen. In zwei Schichten wurden hier eingehende Botschaften entschlüsselt. Nun, um ein Uhr nachts, waren die Schreibtische jedoch leer und auch das übrige Gebäude wirkte wie ausgestorben. Nur in dem zentralen Computerraum, der vorne über dem Eingang lag, saßen einige vom Bereitschaftsteam mit müden Augen vor ihrem Sichtungsgerät. Sie ordneten die im System ankommenden Daten nach codierten Statuszeilen, trugen sie in ein Protokoll ein und leiteten sie danach an einen der zuständigen Experten für die Kryptoanalyse weiter.
Anatoli ging voraus zu einem freien Arbeitsplatz, steckte seinen codierten Personalstick in den Slot im Fuß des Monitors und gab sein Passwort ein. Sofort sprang der Bildschirm an und zeigte die zuletzt bearbeitete Mail. Der Oberst warf einen abschätzigen Blick auf Anatoli und setzte sich. Als er den Text sah, erstarrte er jedoch.
Die Nachricht kam aus dem Büro des Direktors einer Bank in Estland. Es war eine Liste von Geldtransaktionen und die Anlagen beinhalteten die genaue Darstellung von Geschäften, Firmen und Konten einiger sehr einflussreicher Unternehmer im Umfeld des Kremls. Namen aus den obersten Sphären der Macht, darunter auch solche, die man als einfacher Oberst des Geheimdienstes zwar kannte, aber besser nicht einmal laut aussprach. Er scrollte nach unten – die beiliegenden Auszüge betrafen acht Personen, die man hinter vorgehaltener Hand nur als den Zirkel bezeichnete. Eine Gruppierung, die sich im Hintergrund hielt, aber versuchte, von dort aus die Fäden zu ihren Gunsten zu ziehen. Wobei niemand genau wusste, wer bei welchem Geschäft gerade die Finger im Spiel hatte. Doch hier, das war das Beunruhigende an dem Dokument des Bankdirektors, stand nun alles in Klartext – unverschlüsselt, ungeschützt, für jedermann lesbar! Und die Summen, die aufleuchteten, waren enorm.
Der Oberst arbeitete seit über dreißig Jahren für den Nachrichtendienst und hatte erst einmal eine nicht chiffrierte Nachricht erhalten. Damals war es ein verzweifeltes Telex eines Agenten aus der DDR gewesen, Anfang November 1989, und einen Tag später fiel die Berliner Mauer. Und das, was er hier gerade las, übertraf diese Sache bei weitem, rüttelte an den Grundfesten des Landes. Diese Daten, wenn sie bekannt würden, konnten weit mehr zu Fall bringen als eine Mauer.
Mit jeder Zeile erfuhr er ein weiteres Detail von korrupten Schachzügen einiger sehr gefährlicher Leute im Umfeld des Kremls. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er beim Lesen zwangsläufig zum Mitwisser wurde, denn das waren keine Gerüchte, das waren Beweise. Die Erkenntnis trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Diese Leute griffen zu purer Gewalt, wenn es um den Schutz ihrer Interessen ging, das war ein offenes Geheimnis.
Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen und befahl Anatoli mit einer knappen Anweisung, die Nachricht nicht ins Protokoll einzutragen, so als hätte es diese Mail nie gegeben.
In seinem Arbeitszimmer loggte er sich in das System ein, übernahm das Dokument, kopierte es in ungeduldiger Eile auf eine leere Wechselfestplatte und löschte es dann zur Gänze aus dem System. Damit verstieß er gegen jede Vorschrift des Geheimdienstes und konnte deswegen angeklagt werden, doch daran verschwendete er jetzt keinen Gedanken. Für Notfälle, die diese speziellen Personen betraf, gab es eine private Organisation, die sich um deren Sicherheit kümmerte und von der er gelegentlich auch finanzielle Zuwendungen bekam. Die würden wissen, was zu tun war.
Читать дальше