Ein unterdrücktes Gurgeln ließ Carlos langsamer werden. Atemlos blieb er stehen und sah sich um. Es klang wie ein undeutliches Rufen, das hinter einem Haufen Schutt hervorkam. Er räumte mit den Händen die losen Stücke weg und stemmte sich dann mit den Füßen gegen einen größeren Felsbrocken, bis dieser zur Seite kippte und den Einlass in einen niederen Durchbruch freigab. Dahinter lag ein enger Querschlag, nur wenige Meter tief, vermutlich erst vor Tagen angelegt.
Carlos blickte in ein Augenpaar, das ihn leblos anstarrte. Ein Mann lag bis zur Brust unter Felsstücken, eine verdrehte Hand und sein Kopf mit einer klaffenden Wunde ragten heraus. Zwischen den verklebten Haaren sickerte Blut in die Ritzen zwischen den Steinen am Boden. Ein Teil seines weißen Plastikhelms mit der halben Aufschrift der Mining Company, die hier Zinn abbaute, steckte in den Trümmern. Der Aufprall musste so heftig gewesen sein, dass es ihn einfach in Teile zerrissen hatte.
Ein älterer Arbeiter kniete vor der Leiche, hieb mit den Fäusten auf die Brust des Toten und rief einen Namen. Durch die Anstrengung hustete er, rang nach Luft, zog aber mit jedem Atemzug nur mehr von dem beißenden Rauch in seine Lungen. Achtlos wischte er mit dem Handrücken über seine aufgesprungenen Lippen, versuchte wieder den Namen zu schreien, doch es blieb bei einem kratzenden Würgen und einem weiteren quälenden Aufhusten.
Carlos duckte sich in den niederen Gang hinein, presste ein Taschentuch vor seinen Mund. Eine Seitenwand war noch intakt, an der schob er sich halb kriechend in den engen Spalt bis zu den beiden hin. Er erwischte den Knienden an der Jacke, wollte sich bemerkbar machen, doch der nahm ihn in seinem Schock überhaupt nicht wahr. Er versuchte verzweifelt, seinen toten Kumpel unter dem Geröll hervorzuziehen und redete ihm zu, doch wieder aufzustehen.
Carlos fasste den Mann hart am Arm, er musste ihn von da wegbekommen, jederzeit konnten die Reste der Wand nachgeben. Er riss ihn zu sich hoch, schüttelte ihn und brüllte ihn an. Endlich reagierte der andere, drehte langsam den Kopf und richtete sich taumelnd auf. An der Bewegung war zu erkennen, dass er langsam wieder klar wurde. Sein Gesicht war durch den ganzen aufgewirbelten Dreck mit einer grauen Schicht überzogen, so als würde er eine Maske tragen. Seine Lippen waren von dem Sturz aufgeplatzt und das trocknende Blut zog eine schmierige Spur wie ein groteskes Grinsen.
Carlos bückte sich, drückte dem Toten die Augen zu und zog dann den widerstrebenden Alten, der unverständliche Worte hustend aus sich herausstieß und den Blick nicht von seinem Kumpel lassen konnte, mit sich in den Hauptgang.
»Sie können nichts mehr für ihn tun«, schrie er ihn an. »Er ist tot! Aber Sie leben, also kommen Sie, wer weiß, wie lange der Schacht noch hält!«
Der Mann nickte stumm, riss sich von dem Anblick los. Er begann zu schluchzen, humpelte aber hinter Carlos her. Der suchte verzweifelt den Gang, über den er gekommen war. Jetzt, da sie in der anderen Richtung liefen und in der Staubwolke, die überall aus den Gängen quoll, sah alles anders aus. Immer wieder mussten sie über umgestürzte Maschinen klettern oder sich, wo das Licht ausgefallen war, an den Wänden entlang weitertasten. Sie fanden noch einen weiteren Mann, der verletzt am Boden saß, stützten ihn zu beiden Seiten und nahmen ihn mit sich.
Carlos hatte keinen trockenen Faden mehr am Leib, die Luft unter Tag war drückend und stickig. Endlich kamen sie zu dem Platz, in den mehrere Tunnel einmündeten. Ihnen bot sich ein grauenhaftes Bild. Die Decke hatte sich gesenkt und eine Seite hatte ganz nachgegeben. In den Trümmern lagen Leichenteile, zerschmetterte Körper, blutige Kleidungsstücke.
Carols ekelte es furchtbar und er musste sich sehr zusammennehmen, um sich nicht übergeben zu müssen.
»Cuidado con la cabeza!«, rief der Alte – Passt auf, dass ihr euch nicht die Köpfe stoßt! Er leuchtete nach hinten und trieb die beiden an.
Es konnten nur mehr wenige Biegungen bis zur Haupttreppe sein, doch in diesem Teil war das Grubenlicht ganz ausgefallen und man konnte trotz der Taschenlampe die Hand nicht vor den Augen sehen. Keiner wusste so genau, welche Richtung sie einschlagen sollten. Es rieselte unablässig von der Decke, immer wieder gab der Fels Geräusche von sich, so als würde der Rest des Berges in die Stollen herunterstürzen.
Zwei Männer kamen durch einen Nebengang aus der Nähe des Kraters. Die Verwüstungen mussten dort am stärksten sein, das konnte man sogar im Halbdunkel erkennen. Sie tappten durch die Finsternis, versuchten nach draußen zu finden und verständigten sich durch Zurufe, froh auf jemanden zu treffen – als Gruppe erträgt man die Angst leichter.
»Wir müssen da lang«, sagte einer von ihnen, »dann den zweiten Gang links.«
Er trug einen andersfarbigen Helm, musste also ein Vorarbeiter sein, und kannte die Stollen und Gänge der Grube. Sie atmeten erleichtert auf – wenigstens einer wusste den Weg aus diesem Irrgarten. Langsam tasteten sie sich weiter, immer wieder rutschten sie auf dem glitschigen Steinboden aus. Der Alte stolperte über einen Brocken und schlug sich den Knöchel blutig. Er schrie kurz auf, unterdrückte dann aber den Schmerz und humpelte weiter.
In der ganzen Verwirrung versuchte Carlos zu erkennen, was hier geschehen sein konnte. War es ein normales Grubenunglück? Das schien ihm unwahrscheinlich, denn wenn ein Stollen einbrach, senkte sich zwar ein Teil des Bodens darüber, aber es gab keinen solchen Krater, wie er ihn draußen gesehen hatte.
Wieder kam ihm dieser seltsame Geruch entgegen, den er schon zuvor bemerkt hatte, diesmal noch intensiver, sodass er sogar die Richtung feststellen konnte. Er blieb stehen, suchte in seinen Taschen nach Streichhölzern, zündete eines an und hielt es hoch. An der Stelle war eine Ausbuchtung wie ein kurzer Seitenarm. Im Dunkel erkannte Carlos undeutlich die Umrisse von etwas. Es sah wie eine Blechkiste aus und hatte eine Aufschrift, die er im Flackern nicht entziffern konnte.
»Scheiße!« zischte er und warf das Streichholz zu Boden. Die Flamme hatte ihm die Finger verbrannt.
Die anderen waren stehengeblieben und zerrten einen Verletzten, den sie im Schein der Taschenlampe entdeckt hatten, unter einigen Trümmern hervor. Er hatte das Gesicht abgeschürft und aus dem aufgerissenen Ärmel seiner groben Leinenjacke ragte der blutige Rest eines Unterarmes hervor, aber er war bei Bewusstsein und drückte den Arm mit der zweiten Hand an seinen Körper, um ihn einigermaßen zu fixieren.
Carlos zog seinen Gürtel aus der Hose und versuchte damit den Arm abzubinden.
»Rápido, rápido!« drängte der Vorarbeiter. »Es muss so gehen, wir haben keine Zeit mehr, die ganze Scheißmine bricht zusammen!«
Er schob die Gruppe energisch weiter. Carlos blickte zurück, er hätte zu gerne gewusst, was das dort auf der Kiste stand, aber er konnte nicht mehr umkehren. Von unten war wieder dieses eigenartige Dröhnen zu hören und hinter Ihnen rieselte es von der Decke – besser, nicht alleine zurückzubleiben.
So schnell es ging hasteten sie zu dem Seitengang, der zur Haupttreppe führte. Hinter der Biegung konnte man endlich einen fahlen Schein des Tageslichts erkennen. Sie trafen auf weitere Flüchtende, die wie sie den Weg aus dem Labyrinth gefunden hatten. Sie mussten sich äußerst konzentrieren, um nicht über die hohen Stufen zu stolpern, weil die Nachkommenden in ihrer Angst wie wild nachdrängten.
Als sie endlich draußen waren, die ersten Notdienstwagen trafen jetzt bereits ein, setzte sich Carlos etwas abseits auf eine Anhöhe und atmete gierig die frische Luft ein. Inzwischen war es früher Abend geworden und begann zu dämmern.
Eigentlich war der junge Offizier der bolivianischen Armee nur zufällig in der Nähe gewesen. Er wohnte nur wenige Kilometer entfernt und verbrachte einige freie Tage zu Hause. Da seine Frau schwanger war, benützte er jede Gelegenheit bei ihr zu sein. Sie wollten an diesem strahlend schönen Tag zu dem kleinen See im Süden von Potosí, an dem sie so gerne spazieren ging. Da spürten sie dieses Grollen, wie von einem Erdbeben, vermischt mit zwei dumpfen Schlägen. Es fühlte sich an als würde ein riesiger Hammer auf die Felsen schlagen. Und es war aus dem Bergwerk neben dem See gekommen.
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