Manchmal denke ich wirklich, mich sieht sowieso keiner. Also mache ich ihr auch keinen Vorwurf. Das ist schon seit meiner Kindheit so, im Kindergarten, in der Schule, auch zu Hause. Mutter vor allem, die konnte alles und jeden ignorieren, wenn sie wollte. Hat einfach auf stur geschaltet und Löcher in die Luft geguckt. Selbst wenn man ihr fast ins Gesicht gekrochen ist wegen einem Lutscher oder später, ob man abends noch länger weg darf. Und Vater hat sich ihr angepasst, der arme Kerl. Ihm war alles egal, was nicht mit Sport zu tun hatte. Später hat er sich totgesoffen. Schön ist das sicher nicht, wenn man immer übersehen wird, das muss ich schon sagen, aber man kann’s überleben, ohne Schaden zu nehmen. Das sieht man ja an mir. Andererseits kein schlechter Gedanke, unsichtbar sein zu können, wenn man’s braucht. Was man dann für Möglichkeiten hätte! Aber das ist natürlich nur so eine Fantasie.
Zum Rauchen geht Kerstin auf den Balkon. Sie raucht wenig. Zwei, vielleicht drei an einem Abend. Am Sonntagmorgen auch mal gleich nach dem Frühstück und noch vor dem Duschen. Das sind Glücksmomente für mich. Oft, so wie eben gerade, ist sie dann nur im Bademantel, so einem dünnen weißen aus Plüsch, der nur bis kurz übers Knie reicht. Ich denke immer, drunter hat sie nichts an. Das zu denken macht mich unheimlich an. Ich meine, vielleicht hat sie doch etwas an unterm Bademantel, aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass ich denke, sie hat vielleicht nichts an. Das sind so meine Lieblingsstellen im Tagebuch.
Gerade ist sie wieder rein. Wie immer, wenn es einigermaßen warm ist, lässt sie die Tür einen Spalt offen. Jetzt kann ich rauchen. Die Zigarette in der hohlen Hand, dass man die Glut nicht sieht in der Dämmerung. Einundzwanzig Uhr dreißig. Es wird bald ganz dunkel sein. Sie haut sich jetzt mit ihrem Schmöker in den Sessel, trinkt vielleicht einen Schluck Weißwein dazu. Ich sehe dann stundenlang nur ihren Haarschopf und manchmal eine wippende Fußspitze. Ich denke, dann ist sie in einer ganz anderen Welt, ganz weit weg. So wie ich in meiner ganz eigenen Welt bin, wenn ich in meinen Gedanken unser Tagebuch durchgehe und umschreibe.
Aber das ist etwas für meine einsamen Stunden, das will ich jetzt nicht tun. Unten machen sie spätestens um zehn das Licht aus, die alten Mertens gehen immer früh zu Bett. Vielleicht schaffe ich es heute, auf Kerstins Balkon zu klettern. Das hatte ich schon ein paarmal vor, habe mich aber nie wirklich getraut. Aber heute will ich. Dann werde ich ihr doch viel näher sein. Und ich denke, sie will das auch. Alle wollen jemanden, der ihnen nahe ist, nicht nur mal für eine Nacht, sondern für lange. Für immer. Aber wenigstens ab und an. Deswegen geht sie doch in die Disco, oder? Diese Scheißkerle! Wenn da auch nur ein Guter drunter gewesen wäre, wäre Kerstin schließlich auch nicht mehr allein. Ich bin ihr treu. Nur weiß sie nix davon.
Ich denke, heute kann ich es schaffen raufzuklettern. Ich muss mich nur zusammenreißen. Einmal muss es ja doch sein. Das Regenrohr ist fest, das habe ich getestet. Ich meine, ich will sie nicht erschrecken, ich doch nicht. Ich liebe sie doch. Ich werde warten, bis sie im Bett ist und das Licht ausgemacht hat. Dann noch eine halbe Stunde, um sicher zu sein, dass sie schläft. Ich will doch nur erst einmal gucken. Ich will ihr nichts tun. Ich will sie nur sehen, wie sie da in ihrem Bett liegt. Vielleicht kann ich mal ihre Wäsche in die Hand nehmen, sie riechen und befühlen. Mehr will ich doch gar nicht.
Und wenn sie wach wird? Und wenn sie schreit? Weil sie sich erschreckt, obwohl ich sie doch liebe und nicht erschrecken will? O Scheiße! Warum ist das Leben so kompliziert? Ich will nichts Böses, aber die Leute würden bestimmt sonst was denken. Ich meine, was gehen mich die Leute an? Trotzdem, ich muss ganz vorsichtig sein, ihretwegen, aber auch meinetwegen.
O Kerstin! So lange habe ich schon gewartet. Ich kann nicht mehr warten. Sonst geht etwas kaputt in mir, das weiß ich. Also werde ich nicht mehr warten. Nur noch, bis du fertig bist mit Lesen. Und dann noch eine halbe Stunde.
MECHTILD BORRMANN
Brief an einen Sohn
Bielefeld am 22. August 2006
Christian,
schon die Anrede fällt mir schwer. Zwei Briefbögen habe ich bereits in den Papierkorb geworfen. Auf dem ersten hatte ich ganz selbstverständlich »Lieber Christian« geschrieben. Dann erschien mir dieses »Lieber« unangemessen. Auf dem zweiten Bogen stand »Geliebter Sohn«. Das fühlte sich besser an, denn es sagte nichts über dich aus, sondern nur über meine Liebe zu dir. Aber auch dieses Blatt habe ich zerrissen. Nicht, dass ich dich nicht mehr liebe, aber kaum dass ich es niedergeschrieben hatte, spürte ich deine Zurückweisung.
Du bist mir fremd geworden. Ich weiß, dass es dich schmerzt, wenn du diese Zeilen liest, aber mich trifft dieses Eingeständnis nicht weniger. Auch hier die Hürde der falsch gewählten Worte. Diese Vorsicht, mit der ich Begriffe austausche, an den Sätzen feile, um Missverständnisse zu umgehen. In Wahrheit weiß ich gar nicht, ob es dich schmerzt. Aber kann ich schreiben: Ich hoffe, dass es dich schmerzt? Ich wünsche mir, dass es dich schmerzt.
Ich sehe dich zustimmend nicken. Das würde deine Sicht unserer gemeinsamen Geschichte untermauern. Du würdest darin nicht meinen Wunsch sehen, dass ich dir gerne etwas bedeuten würde. Du würdest herauslesen, dass ich dir Schmerz wünsche. Unsere Gespräche sind, seit du fünfzehn warst, an den Formulierungen gescheitert. Damals hatte ich den Eindruck, du suchtest danach. Du suchtest die Sätze nach ihren Schwachstellen ab, um sie zu zerbrechen.
Dein Vater und ich sind immer der Meinung gewesen, dass elterliche Liebe, Bildung und ein intaktes soziales Umfeld einem Kind optimale Entwicklung garantieren. Heute bezweifle ich das!
Oh, ich höre dich sagen, dass ich es mir mit dieser Überlegung leicht mache. Dass ich versuche, mich meiner Verantwortung zu entziehen. Aber das stimmt nicht. In dem Wort Verantwortung steckt das Wort Antwort. Ich suche eine Antwort auf die Frage: Habe ich einen Mörder geboren, oder habe ich einen Mörder erzogen? Aber egal, wie die Antwort ausfällt, ich fühle mich schuldig. Meine Schuld, Christian, nicht deine. Deine ist, und das sei in aller Deutlichkeit gesagt: Du bist mit 22 Jahren ein erwachsener Mann bei geistiger Gesundheit und für deine Tat verantwortlich.
Trotzdem möchte ich es gerne verstehen.
Lass uns unsere Erinnerungen nebeneinanderlegen, aufdecken und vergleichen, wie bei einem Memory-Spiel. Erinnerst du dich an unsere Memory-Abende? Stundenlang konntest du dieses Spiel spielen. Du hast fast immer gewonnen. Manchmal hast du deinen Geschwistern geholfen, auf deinen Sieg verzichtet. »Schenk ich dir«, hast du dann zu deinem Bruder oder deiner Schwester gesagt. Ich war gerührt. Später, als deine Geschwister ohne deine Hilfe gewinnen konnten, wolltest du nicht mehr spielen.
Vielleicht finden wir auch jetzt, in unseren Erinnerungen, identische Bilder. Diese Pärchen können wir dann beiseitelegen. Diesmal geht es nicht um den größten Kartenstapel. Lass uns die Karten genauer ansehen, die sich unterscheiden. Die wir rückblickend, jeder auf seine Weise, verändert haben, um sie erträglich zu machen.
Du warst der Erstgeborene. Ein kräftiges, freundliches Kind und von einer fast stoischen Ruhe. »Was für ein liebes Kind«, hörte ich von allen Seiten. »So genügsam.«
Wenn ich dich zum Spielen in den Laufstall setzte, konntest du dich stundenlang alleine beschäftigen. Wenn ich dich abends in dein Bettchen legte, musste ich nicht bleiben, bis du eingeschlafen warst. Dein Plüschmond, in dem eine Spieluhr »Guten Abend, gut’ Nacht« spielte, reichte dir. Nur wenn du dir wehgetan hattest, warst du nicht wiederzuerkennen. Ein Anstoßen oder Hinfallen, und du hast dich über Stunden nicht beruhigt. Dein erstes blutiges Knie war eine Katastrophe. Du hast geschrien und fast bis zur Ohnmacht hyperventiliert.
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