Rudolf Steiner - Vom Menschenrätsel
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LUNATA
Vom Menschenrätsel
Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen und Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten
© 1916 by Rudolf Steiner
Umschlagbild: Sechstes apokalyptisches Siegel ,
Rudolf Steiner
© 2020 Lunata Berlin
Inhalt
Vorwort und Einleitung Vorwort und Einleitung
Gedankenwelt, Persönlichkeit, Volkheit
Zusatz für die Neu-Ausgabe 1918
Das Weltbild des deutschen Idealismus
Der Idealismus als Seelenerwachen: Johann Gottlieb Fichte
Der Idealismus als Natur- und Geistesanschauung: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
Der deutsche Idealismus als Gedankenanschauung: Hegel
Eine vergessene Strömung im deutschen Geistesleben
Bilder aus dem Gedankenleben Österreichs
Ausblicke
Anmerkungen
Über den Autor
Gedankenwelt, Persönlichkeit, Volkheit
Aus Anschauungen, die sich im Laufe von fünfunddreißig Jahren in mir über Gedankenwelten einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten gebildet haben, legte ich einiges Vorträgen zum Grunde, die ich in dieser schicksaltragenden Zeit in mitteleuropäischen Städten zu halten hatte. Von solchen Persönlichkeiten wollte ich reden, in deren Gedanken die drängenden Lebensfragen nach Lösung suchen und in deren geistigem Ringen zugleich das Wesen der deutschen Volkheit sich offenbart.
Was ich so aussprach, möchte ich auch zu den Leitgedanken dieser Schrift machen. Sie soll vom Suchen des Menschengeistes nach Erkenntnis seines Wesens sprechen in Anknüpfung an solche Suchende, die nicht persönlichen Erkenntnis-Liebhabereien oder aus der Willkür geborenen ästhetisierenden Neigungen nachgingen, sondern Gedanken, die aus einem unwiderstehlichen gesunden Drang der Menschennatur erstehen und die bodenständig sind in den Gemütsbedürfnissen der Volkheit trotz der Geisteshöhe, nach der sie streben.
Allerdings wird von Persönlichkeiten die Rede sein, denen oft der Sinn abgesprochen wird für die Wirklichkeiten des Lebens von denjenigen, die nicht anerkennen wollen, dass der Mensch von der Wirklichkeitsoberfläche verwirrt und lebensuntüchtig gemacht wird, wenn er ihr nicht gegenübertreten kann mit Anschauungen über den Geist, der in Wirklichkeitstiefen waltet. Nach Erkenntnis des Geistes ringende Gedanken stoßen oft eine Seelenverfassung ab, die gar zu gerne sich auf Goethe berufen möchte, indem sie solchen Gedanken gegenüberhält: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, – und grün des Lebens goldner Baum.« Sie achtet dabei nicht darauf, dass Goethes Humor diese Worte gebraucht, um dem Teufel eine Belehrung in den Mund zu legen, welche dieser für einen Schüler gut findet.
Ein lebentragender Gedanke wird dadurch nicht betroffen, dass ihn eine der menschlichen Denkbequemlichkeit schmeichelnde Ansicht für grau hält, weil sie die Grauheit ihrer eigenen Theorie für goldigen Glanz des grünen Lebensbaumes hinnimmt.
Es widerstrebt der Empfindung mancher Menschen, von der Einwirkung einer Volkheit auf die Weltanschauungen der aus dieser Volkheit entsprossenen Persönlichkeiten zu sprechen. Denn sie meinen, das widerspräche doch der selbstverständlichen Wahrheit, dass Erkenntnis des Wahren ein bei allen Menschen in gleicher Art vorhandenes Lebensgut sei.
Dass dies sich so verhält, ist wirklich so selbstverständlich, wie dass der Sonnenschein und der Mondenschein allen Menschen der Erde gleich erstrahlen. Und unbestreitbar gilt es ebenso für die höchsten Gedanken der Weltanschauung wie für das »Zweimal zwei ist vier« der Alltäglichkeit, dass die Wahrheit nicht nach Menschen- und Völkerart verschieden sich gestalten könne. Aber eben weil dies so selbstverständlich ist, sollte nicht vorausgesetzt werden – ohne weiteres Hinsehen auf das, was gemeint ist –, dass jemand dies Selbstverständliche außer acht lässt, der im Wesen der Denker eines Volkes sucht nach den Wurzeln der Volkheit, aus der sie entstammen.
Der Menschengeist lebt doch nicht nur in der abstrakten Prägung gewisser Begriffe; er schöpft sein Leben auch aus den Kräften, welche die Seelen aus ihren vertraulichsten Erfahrungen heraus mit den aus ihnen geborenen Einsichten mittönen lassen. Goethe empfand so, als er an einen Freund schrieb: »Nach dem, was ich bei Neapel, in Sizilien von Pflanzen und Fischen gesehen habe, würde ich, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, sehr versucht sein, eine Reise nach Indien zu machen, nicht um Neues zu entdecken, sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen.« Goethe weiß, wie sogar das schon Entdeckte in neuem Lichte wiedergefunden werden kann, wenn es in einer neuen Art geschaut wird.
Und was die Menschheit an Gedanken für ihr geistiges Leben über die Erkenntnisfragen entwickelt, das spricht nicht nur von dem, was Menschen suchen, sondern auch davon, wie sie suchen. In solchen Gedanken fühlt der dafür Empfängliche den Seelenpuls, der von dem Leben kündet, aus dem sie in die Vernunft hineinstrahlen. So wahr es ist, dass man in einem Gedanken auch seinen Denker kennenlernt, so einleuchtend ist, dass man in einem Denker die Volkheit schauen kann, aus der der Denker aufgestiegen ist.
Welch ein Wahrheitsgehalt einem Gedanken innewohnt und ob eine Vorstellung aus den Wurzeln echter Wirklichkeit erwachsen ist: darüber können sicherlich nur die von Ort und Zeit unabhängigen Erkenntniskräfte entscheiden. Doch ob ein bestimmter Gedanke, ob eine den Menschengeist in eine gewisse Richtung lenkende Idee innerhalb einer Volkheit auftaucht, das liegt an den Quellen, aus denen der Geist dieser Volkheit schöpfen darf. Karl Rosenkranz wollte über die Wahrheit der Gedanken Hegels gewiss nichts aus der Tatsache beweisen, dass er diese Gedanken in Zusammenhang brachte mit dem deutschen Volksgeist, als er 1870 sein Buch schrieb: » Hegel als deutscher Nationalphilosoph «. Er hatte die Ansicht, die er schon in seiner Beschreibung des Lebens Hegels ausgesprochen hat:
»Eine wahre Philosophie ist die Tat eines Volkes ... Aber für die Philosophie, insofern sie Philosophie ist, kommt es zugleich auf die Eigenheit des volkstümlichen Ursprungs gar nicht an. Hier hat die Allgemeinheit und Notwendigkeit ihres Inhaltes und die Vollendung seines Beweises allein Bedeutung. Ob das Wahre von einem Griechen oder Germanen, von einem Franzosen oder Engländer erkannt und ausgesprochen wird, hat für es selbst, als Wahres, kein Gewicht. Jede wahre Philosophie ist daher als nationale zugleich eine allgemeine menschliche und im großen Gang der Menschheit ein unentbehrliches Glied. Sie hat das Vermögen der absoluten Verbreitungsfähigkeit durch alle Völker, und es kommt für ein jedes die Zeit, wo es die wahrhafte Philosophie der andern Völker sich aneignen muss, will es anders seinen eigenen Fortschritt sichern und fördern.«
Es kann die Empfindung, die man gegen das Volkstümliche von Weltanschauungsgedanken hat, auch noch anders geartet sein. Man kann aus der Anerkennung der Volkstümlichkeit solcher Gedanken einen Einwand gegen ihren Erkenntniswert bilden. Man kann meinen, dass sie dadurch auf das Feld der Phantasie gedrängt werden und man von ihnen sprechen müsse wie etwa von deutscher Dichtung, während es unzulässig sei, von deutscher Mathematik oder deutscher Physik in demselben Sinne zu reden.
Es gibt Menschen, die in jeder Weltanschauung – jeder Philosophie – eine Begriffsdichtung sehen. Diese brauchen sich mit dem Einwand, der aus der angedeuteten Empfindung ersteht, nicht zu beschäftigen.
Doch die Ausführungen dieser Schrift sind nicht von solchem Gesichtspunkte aus geschrieben. Sie stellt sich auf den andern, dass im Ernste niemand von einer Weltanschauung sprechen kann, der ihr nicht einen Erkenntniswert zuerkennt, der nicht voraussetzt, dass ihre Gedanken aus Wirklichkeiten stammen, die allen Menschen gemeinsam sind. Man kann auch sagen, das sei im allgemeinen richtig; aber eine allen Menschen gemeinsam geltende Weltanschauung sei ein Ideal, das noch nirgends verwirklicht ist; alle bestehenden Weltanschauungen tragen an sich, was aus der Unvollkommenheit der Menschennatur ihnen aufgedrückt ist. Auf eine Besprechung der aus solchem Grunde bestehenden Unvollkommenheit der Weltanschauungen kann hier verzichtet werden. Denn es sollen nicht etwa aus der Volkstümlichkeit von Weltanschauungsgedanken Entschuldigungen für deren Schwäche, sondern Gründe für deren Stärke gesucht werden. Daher kann die Behauptung hier außer Betracht bleiben, dass eben die Denker wie von ihren persönlichen Standpunkten, so auch von dem abhängig sind, was ihnen aus ihrer Volkheit anhaftet; und dass sie eben deshalb nicht zu einer allgemein-menschlichen Weltanschauung durchdringen können.
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