Die älteste Schwester Magdalene, die fleißigste Chronistin
Auch alle meine Geschwister sind erfolgreich durchs Leben gegangen – keine Selbstverständlichkeit nach dem schwierigen Start. Das wohltuende Zusammengehörigkeitsgefühl unter uns Geschwistern und der Austausch über die gemeinsame Vergangenheit sind bis heute geblieben. Dafür bin ich dankbar.
Wenn ich heute, mehr als sechzig Jahre später, aus der winterlichen Kälte in unsere rundherum zentralbeheizte Wohnung mit alten, dicken Mauern trete, tun und lassen kann, was ich will, überkommt mich auch dafür immer noch ein dankbar wohliges Gefühl. Das ist der Vorteil einer kargen Kindheit, dass ich heute alles, was mir geschenkt wurde und wir erarbeitet haben, dauerhaft, täglich und sehr bewusst genieße.
Richard Fuchs, Düsseldorf 2014
Familie Fuchs 1938, die Jüngste fehlt noch. Mutter mit kleinem Richard auf dem Arm. Kinder v. l. n. r.: Ferdinand, Magdalene, Mathilde, Gustel, Gretel.
Am Sonntag um 10:15 Uhr am 18. April 1937
erblickte unser kleiner Richard
unter Gottes Beistand das Licht der Welt.
Mutter und Kind geht es gut.
Gretchen Fuchs (geb. Schwarz), Friedrich Ferdinand Fuchs.
Vaters handgeschriebene Geburtsanzeige, Siegen, An der Alche 21
1937, als ich in Siegen/Westfalen geboren wurde, war die Welt nicht in Ordnung, sondern bestimmt von Ausgrenzungen, sei es religiöser, ideologischer oder politischer Art, durch Bewertung von Menschen nach Wert und Unwert, nach Rasse, körperlicher Disposition und gesellschaftlicher Herkunft. 1934 – also drei Jahre vor meiner Geburt – begann man bereits mit Zwangssterilisation von Erbkranken im Stadtkrankenhaus Siegen. 1935 kam es gegen vierzehn Zeugen Jehovas vor dem Sondergericht Dortmund in Siegen zu einem Prozess. Jüdische Händler wurden vom Krombacher Viehmarkt ausgeschlossen. Eine Wanderausstellung in Berleburg und Laasphe zu Rassenbiologie und Erbhygiene stellte 1936 jüdische und zigeunerische Familien erbarmungslos bloß. Wittgensteiner Zigeuner und Zigeunermischlinge wurden 1937 durch eine Arbeitsgruppe der Rassenhygienischen und Bevölkerungspolitischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt rassenbiologisch erfasst.
1937 beschloss man die illegale Sterilisation aller farbigen deutschen Kinder, der sogenannten Rheinlandbastarde , und setzte sie in einer Nacht- und Nebelaktion um, obwohl diese Kinder laut Erbgesundheitsgesetz nicht hätten sterilisiert werden dürfen. Nach einem Besuch in Deutschland sagte der schwedische Pfarrer M. Liljeblad bereits 1919: „Diese Bastarde werden in Zukunft ein Fluch für ganz Europa sein.“ 2In Mainz habe er ein solches Kind gesehen, mit schwarzen und weißen Streifen auf dem Rücken. Bei den farbigen Kindern handelte es sich um Nachkommen aus der Verbindung von deutschen Frauen und farbigen Besatzern der französischen Armee nach dem Ersten Weltkrieg.
Am 28. April 1937 überraschte ein Zeitungsartikel die Christen meiner Herkunftsgemeinde unter der Überschrift Verbotene Sekten mit der Mitteilung, dass durch Anordnung des Reichsführers SS und Chefs der Polizei die Gemeinden mit sofortiger Wirkung im gesamten Reichsgebiet aufgelöst und verboten seien. 1938 kam es zu Verhaftungen und KZ-Einweisungen einer nicht genannten Zahl von Siegerländern und Wittgensteinern im Zuge der Aktion gegen Volksschädlinge und Arbeitsscheue in Buchenwald und Dachau. Im selben Jahr brannte die Siegener Synagoge – vor den Augen aller. Männliche Mitglieder der regionalen jüdischen Gemeinde im Alter von vierzehn bis siebzig wurden in das KZ Sachsenhausen deportiert. 31938 standen die Zeichen bereits auf Krieg. Im selben Jahr rückte unser Vater zu einer ersten Wehrübung aus, der mit Kriegsbeginn 1939 eine weitere folgte. Nun war er einfacher Soldat, was ihn schon im Ersten Weltkrieg nicht begeistert hatte.
Rassenhygiene und Ahnenforschung hatten im Dritten Reich Hochkonjunktur. Jeder deutsche Staatsbürger verpflichtete sich, einen Arier-Nachweis zu führen. Arier, eine nicht einfach zu identifizierende Rasse, sollten erhalten bleiben und vermehrt werden; Arier waren privilegiert, andere nicht. Die Ironie der Geschichte: Speziell die Führungselite des Dritten Reiches, Hitler, Goebbels und Göring etc., entsprach nicht prototypisch dem Bild des reinrassigen Ariers. Der Rassenhygieniker/Eugeniker Prof. Dr. Max von Gruber (1853–1927) urteilte 1923 in einem Gutachten über Adolf Hitler: „Gesicht und Kopf schlechte Rasse.“ Dennoch verfügte Hitler: Juden oder Zigeuner und auch Rassenmischungen mit Juden seien nicht nur unerwünscht, sondern sollten verfolgt werden. Juden liefen – wie die furchtbare Geschichte des Dritten Reiches zeigt – Gefahr, ermordet zu werden. Die Pseudowissenschaft Eugenik/Rassenhygiene – lange vor 1933 von der akademischen Elite im angelsächsischen Raum vorgedacht, in den USA, Europa, auch in Deutschland verbreitet – ging von der längst widerlegten These aus, der Mensch sei mit seinen Eigenschaften und Fähigkeiten im Wesentlichen das Produkt seiner ererbten Gene.
Anders als damals besteht mein heutiges Interesse an der in Verruf geratenen Ahnenforschung lediglich darin, zu wissen, was unsere Vorfahren den nachfolgenden Generationen weltanschaulich und religiös an Erziehungsmodellen vermittelt haben. In diesem Zusammenhang kann autobiografisches Schreiben Fragen beantworten wie: Warum bin ich so geworden, wie ich bin? Was habe ich von meinen Eltern gelernt, was von einer strengen christlichen Erziehung übernommen, was kritisch hinterfragt und korrigiert, zum Beispiel im Verhalten den eigenen Kindern gegenüber? In welchen Zeiten und mit welchem Zeitgeist bin ich erzogen worden, in welcher Gesellschaft und mit welcher religiösen (früh-)kindlichen Indoktrination?
Kinder hatten damals bedingungslos zu gehorchen und wurden mit dem Ziel erzogen, schließlich so zu werden wie die Eltern – eine Art Selbstverdoppelung. Das setzt zunächst ein ungetrübtes Selbstbewusstsein der Erwachsenen voraus, überspitzt gesagt: Hybris. Denn woher sollen Eltern wissen, welche Persönlichkeit in ihrem Kind schlummert, die geweckt werden könnte oder aber durch falsche Erziehung unterdrückt wird? Warum gibt es nicht eine Alternative zu dem Gebot: Ehre deinen Vater und deine Mutter , in der es heißen könnte: Ehret die Kinder! Jesus, unser Vorbild, zum Beispiel wurde von seinen Eltern sehr geehrt und geachtet.
Abgesehen von biblisch empfohlenen Erziehungsanweisungen unterschied sich christliche Erziehung wenig von der gesellschaftlich allgemein verbreiten Erziehung des 19. und 20. Jahrhunderts. Erziehungsbücher, wie die des deutschen Arztes Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808–1861), leisteten in Sachen Schwarzer Pädagogik ganze Arbeit. Seine Bücher mit den grausamen Erziehungsvorschlägen erreichten mit über vierzig Auflagen eine große Verbreitung. Die zum Erreichen des Gehorsams empfohlenen Schläge, wie sie auch die Bibel empfiehlt, konditionierten die Kinder so nachhaltig, dass sie im Erwachsenenalter dieselbe Art der Erziehung an ihren Nachwuchs weitergaben. Bis schließlich Generationen später die so dressierten Kinder als Erwachsene zu willigen Helfern Hitlers wurden. Obwohl Jean-Jacques Rousseau schon vor 300 Jahren mit seinem Erziehungsratgeber Emile das Kind als eigenes Wesen entdeckte, hatte sich diese Erkenntnis noch nicht in allen Gesellschaftsschichten herumgesprochen. Rousseau selbst wurde allerdings seinem eigenen Anspruch nicht gerecht. Er setzte seine eigenen fünf Kinder mit dem Argument im Findelhaus aus, sie würden sonst seine Karriere belasten.
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