Vieles lernten wir Kinder schon von klein auf, ohne zunächst alles zu verstehen. Zum Beispiel, warum man mehrmals im Jahr Ablässe gewinnen sollte – zugunsten der Verstorbenen oder um selber einen gewissen Grad an Frömmigkeit zu erlangen. Dabei musste eine bestimmte Anzahl von Vaterunser, Avemarias und Ehre sei dem Vater gebetet werden. Besonders Fromme und Eifrige zählten ihre auf diese Weise gewonnenen Ablässe, und manche ältere Frauen riefen es sich über den Gartenzaun zu: I hab scho 25 Abläss gwonne! Wie viel hast du?
Damals war auch das Beichten noch üblich. Vor allem vor den Herz-Jesu-Freitagen. Oder im Hinblick auf besondere Festtage wie Weihnachten und Ostern. Auch vor Micheli ging man ebenfalls beichten; denn der Erzengel Michael war Patron unserer Pfarrkirche! Bei uns zu Haus wurde der 29. September immer in doppelter Weise gefeiert; es war ja auch Papas Namenstag.
Unter den Katholiken Bayerns wurden früher fast ausschließlich die Namenstage begangen. Wesentlich seltener die Geburtstage. Aber wir Kinder mussten schon auch zu den Geburtstagen antreten, wenn beispielsweise der Patenonkel einen Runden feierte. Oder eine Tante, oder sonst jemand im Dorf. Unser Sprüchlein lautete dann ungefähr so: I wünsch dir, lieber Onkel, alles Gute – vor allem Gesundheit und dass der liebe Gott dir noch viele Jahre schenken möge!
Man wünschte einander ganz bewusst ein langes Leben ! – Heute sehe ich es anders: Dass jemand alt werden möge, sage ich seit langem nicht mehr. Wer weiß denn, wie sein Alter einmal aussehen wird? Ich wünsche stattdessen viel lieber Zufriedenheit, Gelassenheit, Freude, Humor, Harmonie – und dass man auch im Alter noch einigermaßen gesund sein, niemand zur Last fallen und, sehr wichtig, ohne allzu schwere Schmerzen seinen Lebensabend genießen möge...
Ein anderer dörflicher Brauch war es, an den drei Tagen vor dem Begräbnis eines Verstorbenen gemeinsam den Rosenkranz zu beten. Das schuldete man denen, die man über Jahrzehnte gekannt und mit denen man, mehr oder weniger, in Frieden gelebt hatte. – Auch das Aufsuchen des Friedhofs und das Schmücken der Gräber, nicht nur an Allerseelen, war allen im Dorf etwas Selbstverständliches. Gang und gäbe war ferner, dass man an den jeweiligen Jahrtagen der Verstorbenen beim Ortspfarrer eine Messe bestellte. Auf diese Weise blieben selbst vor Jahrzehnten Verstorbene im Dorf lebendig. Man erinnerte sich ihrer, betete für sie, schmunzelte eventuell über Episodenhaftes aus ihrem Leben und dachte auf diese Weise gut zu ihnen hin.
Für uns Buben war die Karwoche etwas Besonderes. Die Glocken schwiegen ab Gründonnerstag. Grabesruhe zum Kreuzestod Jesu war angesagt. Statt die Kirchenglocken zu läuten, holten wir unsere aus Holz gefertigten Ratschen, Klappern und Klapperkästen hervor (die das Jahr über aufbewahrt worden waren), um jetzt die Uhrzeiten anzukündigen – zum Kirchgang, zum Angelus-Beten usw. Während der Gottesdienste wurden an diesen Tagen keine Altar-Schellen benützt, sondern ebenfalls hölzerne Klappern. Am Karsamstag bzw. Ostermontag durften wir durchs Dorf ziehen, von Hof zu Hof, von Haus zu Haus, um Eier zu sammeln oder auch ein paar Mark – für unsere Karwochen-Dienste. Der Oberministrant verteilte dann die Gaben/Gelder an die anderen Buben, wovon immer die jeweils Älteren den größeren Anteil erhielten.
Vor dem zweiten Vatikanischen Konzil wurde die Karsamstags-Liturgie noch am frühen Morgen abgehalten, meist nur in Anwesenheit des Pfarrers, des Küsters und der Ministranten. Dabei wurde auch das Osterfeuer entzündet und der Judas in Form eines alten Baumstumpfs verbrannt. Die Gemeinde traf sich erst am Spätnachmittag bzw. Abend in der Kirche zur sogenannten Auferstehungsfeier.
Mit der heute üblichen und sehr sinn- und stilvoll gestalteten Osterfeier (Weihe der Osterkerze, des Tauf- und Weihwassers, der Ostereier, der hausgebackenen Osterlämmer etc.) und dem festlichen Hochamt, wie wir es seit den 1970er Jahren kennen, hatte die vormalige Karsamstag-Liturgie nicht viel gemeinsam.
Gemeindediener über viele Jahre Schäfer in den Sommermonaten
Mit Dieter Hallervorden möchte ich sagen: Diese Zeit machte uns stark . Ja, es waren keine leichten Jahre, die unmittelbare Nachkriegszeit; die noch vorkonziliare Epoche. Es war eine aus heutiger Sicht vielleicht einengende und ärmliche Zeit; zumindest auf dem Lande. Autos gab es nur zwei im Dorf; und nur ein Telefon, einen Briefkasten, eine Gastwirtschaft, eine Schmiede, eine Schreinerei. Alles andere waren Bauerhöfe – plus Kirche, Pfarrhof, Volksschule sowie das Haus und die Werkstatt des Malermeisters (Tünchers), meines Onkels Johann Floth. Seine (ich meine Onkel Hans) Ausbildung hatte er im norddeutschen Buxtehude erhalten. Dieser Ortsname Buxtehude klang für mich immer sehr exotisch; lange konnte ich mir gar nichts darunter vorstellen außer etwas sehr Mysteriöses. Und dass man dort zum Maler ausgebildet werden konnte.
Auch waren da noch drei kleine Häuschen, ohne Bauernhof: In einem lebten zwei ledige Schwestern, im andern, wir nannten es das Schneiderhäuschen , wirkte ein alter Maßschneider, und im dritten, dem Gemeindehaus, lebte der Gemeindediener mit Frau und Kind. Letzteres ein Haus zu nennen, wäre stark übertrieben; es war eine muffige baufällige Bruchbude aus Holz, Lehm und Steinbrocken. Unten im Parterre gab es einen Ziegenstall mit zwei, drei Geißen und einem weithin stinkenden Ziegenbock. Alles in allem eher eine Zumutung, dort wohnen zu müssen. Aber für unseren Gemeindediener Josef Hügel und seine Frau Anna war das kein Problem. Sie hatten immerhin ein Dach über dem Kopf – und waren zufrieden. Wenn der Hügel schellend durchs Dorf zog, dann hatte er etwas zu verkünden; meistens war es eine Vermeldung des Bürgermeisters. Das hörte sich dann etwa so an: Bekanntmachung: Heute Nachmittag ist Frondienst. – Oder: Morgen um elf Uhr tritt die Feuerwehr an. Bitte alle Hydranten vom Eise und Schnee freihalten! – Oder: Nach dem (abendlichen) Avemarialäuten treffen sich alle Eltern, die Schulkinder haben, an der Linde. – Die Linde , ein steinalter, schon brüchiger Baum in der Dorfmitte, war das natürliche Zentrum der Ortschaft. Hier hatten schon viele Generationen miteinander palavert.
Es machte ihm Spaß, dem alten Hügel-Josef, die Aufmerksamkeit der Leute auf sich ziehen – im Dienste des Bürgermeisters und der Gemeinde. Wenn er auf der Straße vor unserem Haus seine Neuigkeit verkündet hatte, kam er meistens kurz in den Hof; denn er wusste, jetzt reichte ihm Mama ein Seidel Most, und den trank er oft in einem Zug aus. Oder, wenn es draußen eisig kalt war, erhielt er ein Gläschen Zwetschgenschnaps; den hatte er noch lieber!
Und was gab es sonst noch im Dorf? Natürlich viele Rinder, Schweine, Pferde, Hühner, Gänse, Enten, Tauben – und etliche Ziegen. Oder, in den Sommermonaten, wenn der Schäfer 14, der aus der Nähe von Wemding (am Rand des Nördlinger Ries) alljährlich zu uns kam, über die Fluren zog, auch eine große Herde Schafe. Noch wesentlich früher hatte das Dorf einen eigenen Schäfer; er bewohnte ein anderes Gemeindehaus; es stand dort, wo zu meiner Zeit ein großer Garten angelegt war, unserem Wohnhaus schräg gegenüber. Aus diesem (ehemaligen und längst abgerissenen) Gemeindehaus stammte übrigens auch ein sehr jung verstorbener Frater Reginald Söder der Missionsabtei Mariannhill in Südafrika; der wohl erste junge Mann aus unserem Dorf, der Trappist werden wollte.
Fast alle Bauern besaßen Grasmäher, Heuwender und Selbstbinder; meistens mehrere Pflüge und Eggen. Drei Bauern hatten sogar schon während der Kriegsjahre Traktoren: Einen Lanz-Bulldog , einen Fahr und einen Cramer . Für uns Buben war es natürlich der Bulldog , der uns am meisten interessierte. Anfangs noch eisenbereift; mit spitzen Eisenzacken an den Rädern, wenn im Feld oder auf Feldwegen. Hartgummi und Luftreifen kamen später. Das Anlassen des Bulldogs war eine eigene Zeremonie: Zunächst wurde der Motor vorgewärmt, dann das Steuerrad nach vorne geholt, um den Motor anzuwerfen. Dies erforderte Schnelligkeit und viel Geschick. Es war nicht ungefährlich.
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