Wir Buben kannten bald schon die Verstecke der GIs. Sobald wir wussten, wohin sie zu einem Schäferstündchen unterwegs waren, lauerten wir ihnen besonders gerne auf. Denn wir ließen uns erst dann wieder vertreiben, wenn sie uns zuvor Schoko, Kaugummi oder Zigaretten zugeworfen hatten. Letztere waren überall sehr begehrt – und sündhaft teuer. Wir horteten die Zigaretten heimlich auf den Eisenbalken unseres alten Stalls, ehe wir selber erstmals eine rauchen würden – oder später dafür wertvolle andere Waren eintauschten.
Späte Erinnerungen an die Ami-Soldaten
An etwas anderes erinnere ich mich noch sehr gut. Es war, glaube ich, noch am Abend des Ostersonntags; die Panzer waren erst ein paar Stunden im Dorf – da ließ ein Soldat seinen Jeep mit zwei Kollegen vor unserem Hoftor stehen, rannte über den Hof in die Küche und sagte zu Mama in fließendem fränkischen Hochdeutsch: Mutter, habts net a Dutzend frische Eier für uns? Ich geb euch Zigaredden oder Schocklaad dafür! Er bekam die gewünschten Eier, bedankte sich höflich und sagte beim Verlassen des Hauses, er sei in Fürth 11geboren, doch schon etliche Jahre vor dem Krieg mit seinen Eltern in die USA ausgewandert. Damals verstand ich die Zusammenhänge noch nicht; das kam erst viel später, als ich erfuhr, dass ehedem deutsche Juden in der US-Army dienten; viele von ihnen als Dolmetscher.
Bei uns im Haus wurden zwei Zimmer im Parterre für mehrere Wochen von amerikanischen Soldaten beschlagnahmt. Hals über Kopf mussten wir sie räumen. Ehe die GIs wieder gingen, rief einer von ihnen uns Kinder zusammen und zeigte uns ein Hitlerbild. Er hatte es in einer Schreibtischschublade entdeckt, in einem alten Jahreskalender eines Würzburger Verlags, riss es heraus und zündete es vor unseren Augen an. Brennend fiel das verkohlte Blatt zu Boden. Dann zertrat er es mit seinem Armeestiefel und sagte: Hittlärr kaputt!!! Diese beiden Worte mussten wir mehrmals laut und deutlich wiederholen.
Später, als die beiden Zimmer wieder freigegeben waren, stellte Papa fest, dass die Ami-Soldaten seine Auszeichnungen (Orden vom Ersten Weltkrieg), die sich im Schreibtisch befanden, mitgenommen hatten. Auf solche Souvenirs schienen die GIs besonders scharf zu sein.
Auch Wochen und Monate nach dem Abzug der alliierten Besatzer aus unserer ländlichen Region wimmelte es noch von allerlei Andenken an diese Zeit – abgesehen davon, dass der ehemalige deutsche Militärflughafen im benachbarten Giebelstadt noch für Jahrzehnte auch von den Amerikanern benützt wurde.
Überall zerstreut, auf den Feldern und Wiesen, vor allem aber im Wald, fanden wir massenhaft aus Kupfer/Messing hergestellte Patronenhülsen. Manche bis zu 25 oder 30 cm lang. Dazwischen lagen auch kleinere Patronen für Maschinengewehre; einige noch voll mit Kugelgeschossen und Pulver. Wir Buben sammelten beides: Pulver und Gewehrkugeln. Das war alles andere als ungefährlich. Die großen der Patronen-Hülsen wurden übrigens noch jahrelang in unserer Pfarrkirche als Blumenvasen verwendet.
Weil im benachbarten Stalldorfer Wald noch Tage oder gar Wochen, nachdem die ersten Panzer bei uns durchs Dorf gerollt waren, kleine SS-Einheiten vermutet wurden, brachten die amerikanischen Soldaten in der Umgebung von Gaurettersheim schwere Geschütze in Stellung und beschossen diese (angeblichen) Verstecke der deutschen Wehrmacht. Ein großer Teil ihrer Artillerie war am Hinteren Holmensprung zwischen Höttingen und Euerhausen aufgestellt, ein anderer direkt zwischen unserer Kirche und dem Waldteil Schenkenhof . Die Geschosse der erstgenannten Geschütze-Stellung flogen über unser Dorf hinweg, die anderen, weil direkt oberhalb des Weilers stationiert, ließen mitunter unsere Fenster klirren und Häusermauern und Wände erbeben.
Noch nach Monaten und Jahren fanden wir Buben auf unseren Streifzügen durch den ortseigenen Wald ganze Kisten voller Handgranaten; darunter auch Nebelgranaten, die von deutschen Soldaten hinterlassen worden waren. Mit Letzteren versuchten wir die Pferdebauern zu verärgern, indem wir ihre Tiere mit künstlichem Nebel erschreckten. Bubenstreiche, gewiss, aber das Spielen mit Gewehren, Munition, Panzerfäusten und dgl. verursachte im Nachkriegsdeutschland allerlei Unfälle, auch viele tödliche.
Sogar Jahre und Jahrzehnte nach dem Krieg wurden wir immer noch an diese schlimmen Zeiten erinnert, etwa wenn wir Brennholz aus dem Stalldorfer Wald holten, um es zu Hause zu sägen und zu spalten. Immer, wenn die Kreissäge plötzlich aufschrillte, wussten wir: Da stak noch ein Granatsplitter im Holz; ein Überbleibsel der krepierten Geschosse aus amerikanischen Geschützen von Anno 1945.
Und es ist auch keine Seltenheit, dass in unseren größeren Städten heute noch und immer wieder Blindgänger gefunden werden; sehr späte Erinnerungen an die schrecklichen Bombenangriffe von Seiten der Alliierten. Denn längst waren die britischen und amerikanischen Bombergeschwader dazu übergegangen, sogar jene Städte anzugreifen, die keinerlei Industriebetriebe beherbergten, auch dann noch, als der Krieg schon entschieden war – z. B. Dresden, das im Februar 1945 zerstört wurde, oder Würzburg, am 16. März 1945, obwohl es zur Lazarettstadt erklärt worden war. Außer verwundeten Soldaten beherbergte die Frankenmetropole nur Frauen, Kinder und alte Leute – plus die nötigen städtischen Beamten, meist ältere Herren und Kriegsbeschädigte.
Wir, im Dorf, blieben auf schier wunderbare Weise von direkten Kriegsschäden verschont. Das war beileibe nicht überall so. Oellingen, die Heimat unserer Mama, wurde unter Panzerbeschuss genommen, weil man dort deutsche Soldaten vermutete. Ganze Gehöfte brannten ab; auch der Kirchturm litt Schaden. So ähnlich erging es vielen kleinen Ortschaften und zahlreichen Städten in ganz Deutschland.
Evakuierte, Ausgebombte und Flüchtlinge
Die Nachkriegsjahre zählen zu den schwersten meines Lebens. Zugestanden, aus unserem Familienverband war niemand im Krieg gefallen bis auf den ältesten Sohn von Papas Schwester Gretel. Wir sind, alles in allem, glimpflich davongekommen. Schon das allein machte uns immer wieder dankbar.
Auch mussten wir im bäuerlich-ländlichen Umfeld nie wirklich hungern. Doch die allgemeinen Folgen des von Hitler und Genossen angezettelten und heraufbeschworenen Krieges bekamen wir alle zu spüren. Auf vielerlei Weise.
Für mich persönlich gehören die sechs Jahre im Internat – drei in Miltenberg, drei in Würzburg – und die gleichzeitig damit verbundenen sechs Gymnasialjahre auf staatlichen Gymnasien zu den trübsten meines Lebens: Wir hungerten und froren in den Wintermonaten. Und wir waren im Seminar unter der steten und strengen Kontrolle des Regens und der Präfekten. Wir wurden von den Lehrern nicht selten drangsaliert. Im Internat mussten wir rohen Lebertran essen, alle paar Tage einen Esslöffel voll! Dass Letzteres lebenswichtig für uns war, aus gesundheitlichen Gründen, begriffen wir damals noch nicht so recht. Auch paukten und lernten wir vieles auswendig, ob es Sinn machte oder nicht. Kurzum, wir wussten die mitunter gut gemeinten Regulierungen und Vorschriften nicht so recht einzuordnen. – Und wenn einer von uns während der Studierzeit Karl-May las oder Dumas Graf von Monte Christo und dabei erwischt wurde, dann folgte ein Donnerwetter.
Unsere Pauker, wie wir die Lehrer nannten, die mit »Herr Professor« angesprochen werden wollten, machten es uns im Unterricht nicht leicht. Sie hatten ja auch, im Vergleich zu heute, kaum ein Hilfsmittel. Mein Nachteil war zudem, dass ich als Außenseiter in die dritte Klasse kam und dass mir unendlich viel von dem Lehrstoff fehlte, den die anderen Klassenkameraden in den beiden Jahren davor sich hatten aneignen können. Meine einzige Vorbereitung auf die dritte Gymnasialklasse bestand in ein paar Monaten Privat-Unterricht in der lateinischen Sprache durch unseren Ortspfarrer Hans Spielmann, der es gut machte und zu Recht zu den besten Lateinern des Bistums zählte.
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