Frank Hebben - Im Nebel kein Wort

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Hitze, kein Wind geht. Laut und hart klingt die Eisenspitze, wenn Dostya ihren Schirm aufsetzt. Und sie laufen – im Rücken ein Bauerndorf im Dunst eines Nachmittags im Jahre des Herrn.
Eine Welt ohne Krieg.
Eine Welt ohne Maschinen, ohne Strom.
Eine Frau und ein Mädchen auf der Suche nach den Steinen …
Und ein Himmel voller Sterne.
„Im Nebel kein Wort ist genau hundert Jahre nach der Katastrophe von Verdun so nah und so einleuchtend, dass es einem kalt den Rücken hinunterläuft.“
– Karsten Kruschel, Nachwort

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Impressum 2016 Begedia Verlag 2016 Frank Hebben Umschlagbild und - фото 1

Impressum

© 2016 Begedia Verlag

© 2016 Frank Hebben

Umschlagbild und Innenillustration – Nikolaj Djatschenko

E-Book – Hardy Kettlitz

Lektorat – Armin Rößler

ISBN – 978-3-95777-098-1 (epub)

Besuchen Sie uns im Web:

http://verlag.begedia.de

Für Melanie

Im Nebel kein Wort

Α

»Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?«

— Alexander Solschenizyn

I

Tier; als könne der Wald sie wittern, zieht kalter Wind durchs Gras: Dostya bleibt stehen. Blätterrieseln, ein Vogel singt – nichts Seltsames. Sie macht die Augen auf, prüft das Kraut am Wegesrand, die Büsche; und den Schatten der Bäume, bevor sie weitergeht, einen Schirm als Gehstock, die Eisenspitze klickt auf Steinchen, dann schlammiger Pfad; freie Wurzeln sind Stufen. Mollig, aber flink, mit festem Gang, folgt sie dem Weg hinauf, links ein Hang, mit Buchen bestanden, rechts Gefälle, Gestrüpp.

Je steiler, desto kürzer wird ihr Tritt: einen Fuß vorgesetzt, neben dem Schirm, auf dessen Griff sie auch das Gewicht des Rucksacks abstützt, klimpernde Schnallen — danach den zweiten Schritt.

In einer Mulde hält sie an. Trinkt aus der Feldflasche. Lupft ihre Mütze: graues Haar; reibt den Schweiß weg. Sie bückt sich, zieht Strümpfe und Wollstrapse nach; ordnet ihren Rock, klopft Dreck aus den Militärstiefeln – ehe sie die Steigung nimmt, zum Hügel hoch, wo sie oben, auf der Kuppe, fern ins Tal blicken kann: Kornfelder, Weide, dort grast das Vieh. Der Rauch eines Dorfes; der Himmel trist. Bergab bremst sie das Tempo, indem sie ihren Schirm in den Matsch steckt: welkes Laub, aufgespießt. Schaut auf die Uhr, die leise tickt.

An Stämmen sucht sie die bemooste Wetterseite, hier westlich, also Osten, Süden, Norden, worauf sie einen Zettel zückt: blutverschmiert, mit Fingerabdruck; ihn studiert, ins Hemd zurücksteckt und ihren Marsch fortsetzt.

Zweige, Pfützen. Großer Stein. Ein sturmgefällter Baum liegt quer, ein zweiter, drübergestiegen. Auf einer Rodung rotten Holzstapel, voller Pilze, auch ein Feuerschwamm – am Gürtel ihre Beiltasche, öffnet sie, zückt das Werkzeug und holt aus, schlägt den braunen Fruchtkörper ab; etwas Erde, weggepustet, wickelt ihn ins Taschentuch.

Talwärts zu einem Zaun, sie rastet. Verblühte Gräser, die Stängel knistern: Kamille und Teufelshaar. Es ist friedlich und still. Dennoch behält sie die Landschaft im Auge, den Nebel; den zitternden Tau in den Spinnweben …

Saatkrähen kreischen davon.

Unter Sträuchern graut der Tag, in Halmen und Ähren, noch unwirklich, als die Morgenröte hinter den Hügeln aufsteigt, bis das Licht blendet. Dostya kneift ein Auge zu, wobei sie ihren Arm hebt, den Stundenzeiger ausrichtet, den Winkel zur Zwölf halbiert: nach Süden. Dann wird die Sonne von Wolken verdeckt, und Nieselregen wäscht den Dunst von den Feldern.

Sie spannt ihren Schirm, schultert den Rucksack, läuft los; die Richtung stimmt, geradewegs auf ein Gehölz zu — niedrige Äste, nasse Blätter, die über den Stoff kratzen und schleifen. Im Freien. Ein Schotterweg, abschüssig, von Rasen und durch Löwenzahn erstickt, der vom Regen entfärbt ist: die Blüten so blass wie die Pusteblumen.

Dostya biegt ab, den Abhang hoch, an einem Gatter entlang. Und plötzlich:

Oh, sagt sie.

Ein Reh. Witternd, die Ohren zucken; das Fell glänzt feucht. Schaut sie an, mit klaren Augen, ehe es davonspringt.

Und sie steht da und weint.

Hand in Hand, wie Bruder und Schwesterchen, jagen sie die Heide zum Wald hoch. Schneller, lacht Lilja, zieht Andrej mit sich – den vertrauten Geruch des Hofs im Pullover: von Kohlen und Schwefel alter Feuer; nach Sauerkraut, ranzigem Fett und gebratenen Kartoffeln, deren Schalen im Kompost verfaulen; ein Blumengesteck auf dem Esstisch; nach Tabak, speckigen Spielkarten; ein Bettlaken, ein Kissen und das Plumpsklo; das Sägemehl in ihrer Werkstatt; nach Schafsbock und nach Hund. Der saure Duft des Heus in der Morgenluft.

Mit der anderen trägt sie den Flechtkorb: kariertes Tuch, durch Nägel fest; rennt an einer Tränke vorbei, noch ein Zaun, ein Fliederbusch, dann der bemooste Wegstein, hier endet das Dorf, und passiert ihn.

Es regnet, keucht Andrej hinter ihr her. Wohin willst du?

Lilja zerrt ihn ins Dickicht: Efeu und Brombeerranken; von Dornen reißen sie sich los, laufen weiter – auf einen Hochstand zu, dessen Leiter schwarz verfault, aber die Sprossen halten, als sie die Bodenluke aufstoßen und nach innen klettern … düster. Das Fenster ist versperrt. Lilja schlägt den Riegel zurück, öffnet: draußen die Bäume, der Regen, stärker jetzt, es prasselt dumpf aufs Dach; schnell die Holzblende zu.

Im Korb verstecktes Brot, die Wurst, das Starkbier – und eine leere Konserve, von der sie den Bindfaden löst; das zerschnittene Blech flappt auf: ein Lichtspiegel, davor der Stumpen einer Kerze, mit dem Zündholz entfacht.

Warm und hell.

Das teilen wir uns, sagt sie, wobei sie die Flasche entkorkt; dran nippt. Sich die Lippen ableckt. Bitter. Wie Fencheltee. Willst du?

Weiß nicht.

Na; sie lächelt.

Gib her. Er trinkt. Und jetzt?

Warten wir ab.

Ich spüre nichts …

Wollen wir was spielen?

Klackernde Würfel im Becher.

Keine Lust.

Sie zuckt die Schultern, ehe sie die Strickjacke, dann hastig den Pullover auszieht: ihr Unterhemd, die schmalen Rippen. Mir ist zu warm, sagt Lilja. Dir nicht?

Andrej schluckt. Also, ich hab dich wirklich gern –

Ja?

Du weißt doch, dein Vater. Der hasst mich. Wenn er wüsste, dass ich hier, mit dir –

Zufrieden schließt sie die Augen: Küss mich.

Er beugt sich vor, und sie knutschen.

Regen, so stark, dass der Waldboden schäumt, plitscht aus den Kronen, in Wasserlachen, rinnt über Borke und Stein. Dostya, ein Geist, hebt ihren Schirm, um den Hügelkamm zu mustern: die Birken auf zerklüftetem Fels, krumm, sobald Böen ins Tal wehen.

Müde steigt sie zur Grenzmarke auf – eine von vielen, die hier oben wie Gräber stehen, uralt, mit traurigen Wappen; und weiß genau, wo sie ist. Zwischen Kletten, großen und kleinen, wandert sie auf dem Grat, bis sie einen Vorsprung erreicht, die Bäume im Rücken, vor ihr ein Hang, der zum Tiefland absinkt: Strauchschicht, und auf den Wiesen der Klee. Über einer Kapelle ziehen die Wolken dahin, Buntglas schillert, Kerzenlicht.

Ganz nah.

Sie nimmt den Steig zum höchsten Punkt, die Aussicht regengrau; und wieder abwärts — zum Gebetshaus oder ins Gebüsch: eine andächtige Stille, an den Bänken klebt Schweiß; der Weihrauch, das Kreuz; oder klamme Kälte in einer Nacht ohne Feuer.

Dostya flucht.

Lilja schlägt sich in die Büsche und pinkelt, wischt sich mit Blättern ab; zieht das Höschen von den Knöcheln, steigt die Leiter hinauf, als sie etwas hört, wie ein Flüstern … hält inne. Hallo, ruft sie, beide Hände an den Holmen. Jemand hier?

Wind zerzaust ihr Haar.

Alles gut?, steckt Andrej den Kopf durch die Luke.

Ja. Dann springt sie ab — im Schauer, der durch die Wipfel strömt, und lauscht.

Du erkältest dich.

Wir müssen los, flüstert sie.

Nach Hause?

Nein.

Eine Böe rüttelt am Schirm, sie umklammert den Elfenbeingriff. Bergab in kleinen Schritten – tritt Kiesel los, die kollernd ins Gras rollen. Unten flutet Regen den Waldweg, gestaut von Reisig, Schutt und Schlamm. Es gurgelt und plätschert.

Die Äste neigen sich knarzend. Lilja stapft durchs Laub, bis ihr der Fuß weggleitet; ihre Hände im Schlick, der weich und schwarz wie Tierkot ist, und schüttelt ihn ab, steht auf. Nackte Beine, die Strickjacke pitschnass.

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