Kappe war verblüfft angesichts der geschliffenen Sprache seines neuen Kollegen. Erstaunlich für einen Neuköllner! Wenn Kynast so weitermachte, landete er bestimmt noch mal im höheren Dienst. «Gut, gehen wir zu unserem Tischler hinüber, dann werden wir ja sehen, ob sich aus Friemels Beobachtungen etwas friemeln lässt.»
«Wie?» Kynast hatte dieses Verb noch nie gehört.
«Friemeln bedeutet basteln.»
Herbert Friemel schien schon wieder halbwegs nüchtern, als sie ihn befragten. «Also, ick komme von da Haltestelle inna Schloßstraße und will nach Hause. Ick wohne da hinten inne Lepsiusstraße und muss imma durch die Muthesius durch. Da kommt ’n Pkw vonna Schloßstraße her, janz langsam. Und dann wird ooch schon jeschossen. Ick hab ma lang uff’n Boden jeworfen, schließlich war ick mal bei da Infantrie. Als ick den Kopp wieda hebe, rast der Pkw los Richtung Lepsiusstraße.»
«Können Sie uns sagen, was der Wagen für eine Nummer hatte, oder wenigstens, um welche Marke es sich gehandelt hat?» Kappe holte schon hoffnungsvoll seinen Notizblock hervor, wurde aber bitter enttäuscht.
«Nee, kann ick nich, so dunkel, wie det uff da Straße hier is, bei die Funzeln alle. Und wat für ’ne Marke det war – keene Ahnung.»
Sie ließen sich die Adresse des Tischlergesellen geben und machten sich dann auf die Suche nach weiteren Zeugen. Es fanden sich jedoch keine mehr.
«Bleibt uns wohl nichts weiter, als abzuwarten», zog Kappe ein erstes Resümee. «Über die Waffe, aus der die Schüsse abgegeben worden sind, werden wir frühestens morgen etwas erfahren. Die Frage ist, ob wir noch bei den Nachbarn klingeln oder gleich ins Krankenhaus fahren. Möglicherweise ist Waschinsky schon ansprechbar. In seine Wohnung kommen wir so ohne weiteres ohnehin nicht rein.»
Kynast überlegte einen Augenblick. «Ich würde vorschlagen, es erst einmal bei seinen Nachbarn zu probieren.»
Kappe nickte. «Die liegen wahrscheinlich sowieso alle in den Fenstern und warten schon auf uns.»
In der nächsten Stunde erhielten sie ein einigermaßen detailliertes Persönlichkeitsbild des Niedergeschossenen. Am besten hatte es Waschinskys direkte Nachbarin zu formulieren gewusst, Frau Dr. Isolde Lauchstädt, Oberstudienrätin für Deutsch und Latein: «Ein sehr verschlossener Mensch, der immer darauf geachtet hat, dass er im Treppenhaus niemandem begegnet ist. Wenn es sich einmal nicht vermeiden ließ, ist er an einem vorbeigehuscht wie ein Schatten. Nun, seine Figur erinnert ja ohnehin nicht gerade an einen Jötun.»
«Einen was bitte?»
«Ein Jötun ist in der germanischen Mythologie ein Riese.»
«Ah ja, danke.»
«Wenn Herr Waschinsky zu Kongressen unterwegs war, hat er mich gelegentlich gebeten, auf seine Wohnung Obacht zu geben. Einmal, als es über ihm einen Wasserschaden gegeben hat, habe ich sie auch betreten. Dabei ist mir etwas Merkwürdiges aufgefallen: In den Bücherregalen habe ich zahlreiche historische Fachzeitschriften gesehen, und gleichzeitig hat er Karl May gelesen, also Trivialliteratur, wie sie eines Akademikers nicht würdig ist. Auf der Anrichte standen Photos seiner Frau und seiner beiden Kinder, alle im Krieg ums Leben gekommen. De profundis clamavi ad te, Domine! »
«Zu welcher Domina hat er gerufen?», fragte Kynast, der sich im Katalog des Versandhauses Beate Uhse bestens auskannte.
Frau Dr. Lauchstädt strafte ihn mit einem strengen Blick. «Ich übersetze, da Sie sicherlich kein Latinum haben: Aus Abgrundtiefen rufe ich zur dir, Herr! Was ich damit meine, liegt doch auf der Hand: Manches Sonderbare an Herrn Waschinsky, wie seine sprachliche Auffälligkeit, erklärt sich wohl aus dem Schicksalsschlag, seine Familie verloren zu haben.»
«Schön und gut», wandte Kappe ein, «aber Herr Waschinsky ist nicht der Täter, sondern das Opfer. Logik, erstes Semester.» Dies hatte er nicht ohne eine gewisse Bosheit hinzugefügt, denn die Selbstherrlichkeit der Oberstudienrätin begann ihn langsam zu ärgern. Kynast schien es ähnlich zu gehen, sonst hätte er nicht nach der Domina gefragt. Dass die Damen und Herren der höheren Schichten ihn und seine Kollegen, die «nur» Beamte des gehobenen und nicht des höheren Dienstes waren, von oben herab behandelten, hatte Kappe in seinem langen Berufsleben oft genug erfahren müssen. Menschen ohne Studienabschluss oder wenigstens Abitur waren eben minderwertig. A priori, wie Frau Dr. Lauchstädt noch hinzugefügt hätte.
Dennoch bedankten sie sich bei ihr wie bei allen anderen Nachbarn. Als sie wieder auf der Straße standen, mussten sie sich aber eingestehen, dass ihnen die Gespräche nicht den geringsten Hinweis auf den oder die Täter gebracht hatten. Keiner wusste von möglichen Feinden Waschinskys, keinem war jemand aufgefallen, der ihn beobachtet oder gar verfolgt hätte.
Kappe überlegte laut: «Und dass Waschinsky ein Zufallsopfer gewesen ist, halte ich für ziemlich ausgeschlossen. Das war mit Sicherheit eine gezielte Attacke.»
Kynast sah die Sache ebenso. «Bleibt uns nichts anderes, als mit Waschinsky zu sprechen und uns weiter in seinem Umfeld umzuhören.»
«Und wenn er inzwischen schon gestorben ist?» Kappe sah auf seine neue Armbanduhr. «Oh! Es ist Mitternacht, Doktor Schweitzer .»
«Wie?» Kynast konnte ihm nicht ganz folgen.
«Der Film, in dem Pierre Fresnay Albert Schweitzer als Missionar in Lambarene spielt», erklärte ihm Kappe.
Kynast lachte. «Aber Waschinsky liegt doch nicht in Lambarene im Krankenhaus, sondern in Halensee.»
«Trotzdem, es ist ein ganz schönes Stück von hier bis ins Salernitana-Krankenhaus.» Kappe schloss die Augen, um den Berliner Stadtplan vor sich zu haben. «Ich schätze mal, an die fünf Kilometer. Zu Fuß sind wir da eine ganze Zeit unterwegs.» Bahnen und Busse der BVG fuhren um diese Zeit nicht mehr, vielleicht noch die S-Bahn, aber das brachte ihnen auch nicht viel.
«Dann gönnen wir uns eben eine Taxe», sagte Kynast.
«Und wenn wir die im Nachhinein nicht bewilligt bekommen?»
«Wir sagen ganz einfach, dass wir mit dem Ableben Waschinskys rechnen mussten und es daher unumgänglich war, ihn zu befragen.»
Kappe leuchtete das ein, und so fuhren sie in einer Taxe nach Halensee. Doch im Krankenhaus konnte man ihnen nichts weiter sagen, als dass Waschinsky noch nicht ansprechbar sei.
«Wird er durchkommen?»
«Wir hoffen es.»
LICHTERFELDE WEST und Lichterfelde Ost, Gründungen des Unternehmers Johann Anton Wilhelm von Carstenn, waren Ortsteile, die ältere Berliner als «fürnehm» bezeichneten. Der bekannte Architekt Julius Posener hatte die Villenkolonien einmal so beschrieben:
Lichterfelde ist heute noch voll von kauzigen Häusern aller Art: Burgen, Miniatur-Palazzi, Schweizerhäuschen, Backsteinschlössern, in deren hohen, ein wenig düsteren Räumen alte Oberste, Staatssekretäre, Privatgelehrte ihr Wesen trieben, Erinnerung pflegten: Sammlungen, Memoiren. (…) Die Häuser haben sogar einen Geruch, den der Kenner als «lichterfelderisch» erinnert.
In Lichterfelde hatte sich von 1882 bis 1918 die Preußische Hauptkadettenanstalt befunden, und 1881 war hier die erste elektrische Straßenbahn der Welt gefahren. Aber damit nicht genug, von einem Hügel in Lichterfelde Süd war Otto Lilienthal 1894 erstmals mit einem seiner selbstgebauten Gleitflugapparaten geflogen, und in Lichterfelde Ost hatte Manfred von Ardenne die ersten elektronisch aufgenommenen Fernsehbilder präsentiert. Davon, dass sich in Lichterfelde ein Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen befunden hatte, war weniger zu hören und zu lesen.
In der Drakestraße in Lichterfelde nun, ganz in der Nähe des S-Bahnhofs Lichterfelde West, lag die Praxis des 53-jährigen Internisten Dr. med. Erich Mialla. Wer den Film Frauenarzt Dr. Prätorius mit Curt Goetz und Valérie von Martens gesehen hatte, zuckte unwillkürlich zusammen, wenn er Mialla zum ersten Mal erblickte. Nicht nur die äußere Ähnlichkeit der beiden war frappierend, Mialla erfreute sich genauso wie Dr. Prätorius aufgrund seiner Güte und Menschenfreundlichkeit bei seinen Patienten einer überaus großen Beliebtheit. Ein nicht geringer Anteil an dem beachtlichen Zulauf, den seine Praxis hatte, ging aber auch auf das Konto von Schwester Rita. Obwohl Bestellpraxen noch nicht in Mode gekommen waren, schaffte sie es, die Patientenströme so zu verteilen, dass das Wartezimmer niemals überfüllt war. Auch hielt sie Rezepte für chronisch Kranke immer schon vom Doktor unterschrieben bereit, so dass niemand länger als nötig den Tresen blockierte. Und wer wirklich einmal etwas länger zu warten hatten, für den lagen ausreichend Illustrierte des Lesezirkels Daheim bereit.
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