Mädchen gab es in der Rotte jedenfalls keine. Wenn überhaupt, dann gab es hier nur das eine erwachsene Weib, die Python. Einen richtigen Mann hatte Simo nie wieder zu Gesicht bekommen, seit Jahren nicht. Der letzte, den er gesehen hatte, war jener Mann gewesen, den er »Papa« genannt hatte, dessen Gesicht in Simos Träumen jedoch mehr und mehr verblasste.
Mit dem Begriff »Glätten« synonymisierten die Demokraten das Neutralisieren, das Töten, das Vernichten auf dem Territorium der EDR. Redeten sie aber vom Feind, dann nannten sie es »Schlachten«. Die aufgezwungene Sprache Der Zehn verharmloste viele böse Dinge. Statt »Kindsoldat« sagten sie »Spund«, statt »töten« »glätten«, statt »quälen« und »erniedrigen« sagten sie »befähigen«.
Die Räudiger und die Educares sprachen in sehr unterschiedlichen Dialekten. Das hatte seinen Grund. Educares erfuhren eine Ausbildung, die Räudiger nicht. Die künstlich erschaffenen Educares wurden im ersten Lebensjahr als »Spundbrut« und anschließend als »Klitzespund« bezeichnet. Während ihrer Kindheit und in den Rotten wurde ihnen ein Grundlagenwissen beigebracht, das mit den Lehren und Anschauungen der Regenten der Europäisch Demokratischen Republik durchsetzt war. Die Räudiger hingegen lernten nur die wortkarge Sprache der Abtrünnigen. Selbst die jüngsten gefangenen Räudiger wurden nicht unterrichtet. Einzige Ausnahme war die militärische Grundausbildung. Allseits galten die Spunde der Abtrünnigen als minderwertige Menschen und man ließ es sie deutlich spüren. Räudiger besaßen keine Rechte und jede Führungsposition in den Rotten wurde stets aus den Reihen der Educares besetzt.
Innerhalb der Rotten existierten zwei unterschiedliche Ausbildungslinien, die großen Einfluss auf die Außenausbildung ausübten. So entstanden Spundschützen, die mit ihren kleinen Gewehren umzugehen lernten, oder Spundspione, die dazu befähigt wurden, sich in der fast menschenleeren Umgebung Europas und des Morgenlandes zurechtzufinden und die Spundschützen zu ihren Zielen zu führen.
Erst mit zwölf Jahren wurden die Jungen als »Jungspunde« bezeichnet und verließen die Rotten. Dann kamen sie in militärische Ausbildungslager, die an der südlichen Grenze gelegen waren. So hieß es zumindest. In der Rotte wurde viel über die Zeit »danach« gefachsimpelt und die Ansprachen der Python schürten all die Vorstellungen und Träume der kleinen Krieger, von denen sich einige immens darauf freuten und es kaum abwarten konnten, die Armeen des Morgenlandes schlachten zu können.
Die Educares wurden bereits gechippt, wenn die Zucht den Eingriff in die Brut zuließ. So konnten die Scanner sie von Beginn an unterscheiden. Viele der Educares sahen sich recht ähnlich, denn die künstliche Aufzucht erfolgte oft in genetisch identischen Gruppen.
Die Räudiger, von den Fängern als »Beute« bezeichnet, chippte man meist unmittelbar nach dem Fang. Da sie meist schon einige Jahre alt waren und das Chippen, das durch einen Med-Roboter durchgeführt wurde, ohne Betäubung erfolgen musste, da sonst die Gefahr bestand, dass das Rückenmark den Fremdkörper abstieß, war es für die Räudiger ein unglaublich schmerzlicher Vorgang. Simo erinnerte sich nur sehr ungern daran, denn es waren üble Sturzbäche von Tränenwasser gewesen, die tagelang aus seinen Augen geflossen waren, bis der Kopf völlig geleert schien.
Die Beutemast auf Schiereiland bestand aus Ställen, in denen jeweils zwanzig Räudiger untergebracht werden konnten. Die Aufsicht führten einige Frauen, sogenannte »Instrukteurinnen«.
Ernährt wurden die kleinen Räudiger mit der Pampe, einem merkwürdigen Brei in einer klebrigen Substanz, die Simo sehr oft den Mageninhalt ungewollt entleeren ließ. Diese wurde auch den Spunden in den Rotten verabreicht.
Die Chips überwachten ihren Spund zu jeder Zeit – alles, was die Jungen taten, wurde ausgewertet, ebenso wie Kraft und Ausdauer, der Zustand ihrer Organe sowie die Zuverlässigkeit des Gehirns. Durch die Bewegungsenergie des jeweiligen Trägers wurden die Chips energetisch versorgt. Über das GMG der Rottenführerin schickten sie sämtliche Daten zu einem System namens Praescius, dem Datenverarbeitungssystem und Hauptspeicher der Europäisch Demokratischen Republik, wo sie gesammelt und ausgewertet werden konnten. Direkt im Chip verblieben lediglich die unmittelbaren Daten zum Spund selbst. Starb ein Spund bei einem Unfall, an einer Krankheit oder durch eine Verletzung oder wurde er geglättet, so löschten sich seine Praescius-Daten automatisch, ebenso wenn ein Chip zur Wiederverwendung entfernt wurde oder wenn seine Energie erschöpft war. Praescius übermittelte sein Feedback an das GMG der Führerin und an den Chip des Trägers. Allerdings wandelte Praescius alle Informationen in ein leicht verständliches Prozentsystem um, welches die Demokraten »Güte« nannten. So war Güte 100 die höchste erreichbare Stufe. Bei 0 Prozent war der Träger tot, unter Güte 10 unbrauchbar, wobei auch hier Unterschiede zwischen Räudigern und Educares gemacht wurden. Erkrankte ein Räudiger schwer und sank dadurch seine Güte unter einen Wert von 10, dann wurde er fast immer geglättet, damit medizinische Versorgungskosten gespart wurden. Die Educares weinten ihm meist keine Träne nach. Geschah selbiges mit einem erkrankten Educares, so wurde er zunächst in die kleine Medizinische Überwachungsstation (MÜS) im Zentrum des Rottenkomplexes gebracht, in der es einen medizinischen Apparat gab. Educares ließ man seltener sterben.
Simo sagte eines Tages zu Paul: »Erschwingliche Energiezellen der Demokraten wir sind.«
Und Paul flüsterte zustimmend: »Yäh. Wenn leer, dann sich vom Hals schaffen sie uns.«
Einen Moment lang überlegte Simo. »Weißt, 34, auseinanderstromern müssen Chip und Spund«, sagte er schließlich.
Die Spunde redeten sich innerhalb der Rotte meist mit der laufenden Nummer der Gruppe und nur selten mit dem Vierletter an. Nummer, Rang und Vierletter waren die Bestandteile der Namen in der EDR, hinzu kam ein genetischer Code, den der Chip automatisch er- und mit jeder Information übermittelte, sodass Verwechslungen ausgeschlossen waren. Die Vierletter waren einst aus vor dem Dritten Weltkrieg tatsächlich genutzten Vornamen gebildet worden. Da sie allzeit aus vier Buchstaben bestanden, passten sie gut in das schlichte System. Räudiger konnten mitunter einen Teil ihres alten Namens behalten, so er bekannt war, die Educares erhielten ihren Vierletter über ein Zufallsprinzip.
»Meinst ernst auseinanderstromern?« Paul, dessen Haut deutlich dunkler war als die aller anderen und der wie ein Morgenländer ausschaute, schüttelte heftig den Kopf. »Geht nur im Tod, 17. Nur im Tod. Yäh. Verdrusseln du wohl 31? Zutrauen mir. Auseinanderstromern Chip und Spund nur im Tod. Ist Nötigung von denen der EDR.«
Pauls Name war erhalten geblieben. Paul erklärte Simo, er heiße seit seiner Geburt Paul, schon damals, in der Abtrünnigen-Stadt, deren Namen er vergessen habe, weit im Osten des Kontinents. Der dunkle Junge kannte sogar noch den Namen seines Vaters, nur den der Mutter hatte er vergessen. Pauls Vater hieß Jonathan. Und manchmal erzählte Paul, dass Jonathan lebte und nach Paul suchte.
Simo wünschte sich, er würde seines Vaters Namen noch wissen.
*
Der Kleine erinnerte sich an Vergangenes. Zwar hatte Simo längst den Vierletter der einstigen Nummer 31 der Elia-Gruppe vergessen, doch 31, ein Räudiger wie er, war an die zwölf Jahre alt geworden und hätte es fast geschafft, die Pythonrotte endlich verlassen zu können. Dann aber hatte 31 das Skalpell ertauscht und einen Räudigerfreund gebeten, ihm den Rücken aufzuschneiden, um den Chip zu finden und zu entfernen. Der tat ihm den Gefallen, denn wäre die Operation gelungen, wäre 31 unsichtbar gewesen und hätte problemlos fliehen können – Zäune oder Fallen gab es nirgends. Über Montgolfière erfolgte jedoch ohne Zeitverzug die Meldung an Praescius, ein Chip verlasse den Sektor der Pythonrotte.
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