Hermann Glettler
Michael Lehofer
TROST
Wege aus der Verlorenheit
Cover
Titel Hermann Glettler Michael Lehofer TROST Wege aus der Verlorenheit
Vorwort
I Die Kunst des Tröstens
Trösten oder Vertrösten?
Der lange Weg zum Trost
Wer tröstet wen?
II Was macht uns trostlos?
Überwältigende Trauer
Schicksalsschläge und Katastrophen
Perfekt sein müssen
Der Wahnsinn der Optimierung
Bedrückende Verpflichtungen
Nichts tun können
Das unerklärbar Böse in der Welt
Bedrängende Ungerechtigkeit
Nicht-Anerkennen von Würde
III Was uns trösten soll
Mehr Besitz und Ansehen
Unmittelbare Befriedigung der Triebe
Die totale Sicherheit
Die Zukunft kennen und beherrschen
Nichts versäumen
Unbedingt jung sein wollen
Selbstmitleid
Die Suche nach Schuldigen
Religion als Wunschkonzert
IV Was uns wirklich tröstet
Genießen und verzichten können
Verbindliche Wertschätzung
Berührung und Nähe
Der Mut zur Wahrheit
Verbundenheit mit Gott
Vergebung und Versöhnung
Für jemanden da sein
Einen Sinn entdecken
Das Unvollkommene und den Tod annehmen
V Jenseits des Trostes
Glaube
Hoffnung
Liebe
Über den Autor
Dank
Quellennachweis
Impressum
Es war der 21. August 1741. Nach der Genesung von einem Schlaganfall kämpft der Komponist Georg Friedrich Händel gegen das totale Versagen. Er ist am absoluten Tiefpunkt seiner Karriere. Seine Musik ist aus der Mode gekommen, Konzertsäle bleiben leer. Apathisch und lustlos sitzt Händel in London. In dieser Schaffenskrise erhält er von einem Freund ein Libretto mit einem Sammelsurium von Bibelzitaten. „Tröste dich mein Volk, spricht dein Gott!“ Diese Trostworte aus dem Buch des Propheten Jesaja packen ihn. In einem Gestaltungsrausch, der drei Wochen dauert, vollendet er das populärste Oratorium der Musikgeschichte, den Messias. Was auch immer historisch oder legendär an dieser Geschichte sein mag, die Stefan Zweig in seinen 14 Miniaturen Sternstunden der Menschheit beschreibt – erstaunlich ist die Wirkung der biblischen Trostworte. Sie galten einst dem Volke Israel. Ein Krieg war verloren, der Tempel zerstört, die Oberschicht ins feindliche Babylon deportiert. Die Menschen fühlten sich verlassen, beschämt und schuldig. Nach einer langen Zeit im Exil, in der die Sehnsucht nach einer befreienden Botschaft gewachsen war, hörte das Volk die Worte des Propheten. Sie wirken bis heute.
Aufklärung und Wissenschaften haben, so der Philosoph Jürgen Habermas, „eines nicht vermocht: das Bedürfnis nach Trost [sei es] zu stillen oder zum Vergessen zu bringen“. Es gehört zu uns Menschen, tröstungsbedürftig zu sein. Die Antwort darauf, der Trost, wird von uns als Geschenk begriffen. Wirklicher Trost lässt sich nämlich nicht „machen“. Trost ereignet sich, stellt sich meist ganz leise ein.
Warum sind wir alle bedürftig nach Trost? Sind wir nicht in vielen wesentlichen Belangen des Lebens mehr als beschenkt? Auch wenn es viele nicht wahrnehmen können – wir leben in und aus einer Fülle, die wir oft als selbstverständlich erachten. Fast alles, was wir sind, steht uns ohne großes eigenes Zutun zur Verfügung: ein Leben in Freiheit, unterschiedliche Begabungen, Stärken und Bildungsmöglichkeiten, materielle Güter und Nahrungsmittel, freundschaftliche und gesellschaftliche Netzwerke. Und die vielen scheinbaren Zufälle, die uns im Leben zu Hilfe kommen. Auch wenn unser Leben ein Geschenk ist, betrachten wir es oft unbedacht als unseren Besitz. Doch wenn uns etwas vom bislang Selbstverständlichen abhandenkommt, beispielsweise die Gesundheit, eine kostbare Beziehung oder die jugendliche Kraft und Attraktivität, verfallen wir in Traurigkeit. Das Bedürfnis nach Trost stellt sich ein. Wird es nicht beantwortet, kann sich ein Schatten unbewältigter Trauer über die Seele legen. Sie zeigt sich möglicherweise verfremdet in einer Verhärtung des Denkens, unter der Maske der Verbitterung oder in einer zunehmenden Herzenskälte. Trösten ist die Kunst, Menschen aus dem scheinbar unwiederbringlichen Verlust in eine neue Fülle zu führen. Eine Ermutigung, den Blick zu heben, den Blick zu weiten, den Blick zu wenden. Trösten ist die Anleitung zu einem kreativen, heilsamen Perspektivenwechsel. Trösten ist ein Plädoyer für die Wirklichkeit, wie sie uns das Leben zumutet – ein Plädoyer gegen die Illusion.
Mit unseren Überlegungen versuchen wir, die oftmals herrschende Dynamik der Trostlosigkeit zu hinterfragen, ihre Gründe zu benennen und ihr lähmendes Potenzial zu relativieren. Sie manifestiert sich oft pseudorational in einer pessimistischen Lebenseinstellung, einem fundamentalen Vorwurf gegen Gott und die Welt, in Verschwörungstheorien oder in ähnlichen Verkleidungen. Wie sich jeder Trost erst im praktischen Leben bewähren muss, so muss sich auch die weit verbreitete Trostlosigkeit einer kritischen Prüfung unterziehen. Letztlich möchten wir mit unseren niedergeschriebenen Gesprächen dem Trost einen größeren Raum geben. Das vorliegende Buch ist kein Ratgeber und kein Nachschlagewerk, um das Handwerk des Tröstens zu lernen. Dazu ist es zu wenig systematisch und zu essayistisch. Außerdem gibt es zu jedem Stichwort eine unüberschaubare Menge an Fachliteratur, sodass wir diesem Anspruch nicht genügen würden. Unsere Gedanken bieten vielmehr eine Zusammenschau unterschiedlichster Aspekte, die sich heilsam, stärkend, sinnstiftend auf den Menschen auswirken können und den Zustand des Getröstet-Seins ermöglichen sollen. Dazu betrachten wir in einem eigenen Kapitel die mühsamen und vielfach vergeblichen Versuche des Menschen, sich zu trösten. Nicht selten führen sie dazu, dass die Trostlosigkeit eher noch zunimmt.
Wir sprechen von der individuellen Verlorenheit des Menschen, also vom Einzelnen, der sich verloren vorkommt – übersehen, wirkungslos und unbedeutend in einem unüberschaubar großen System. Und wir thematisieren auch eine kollektive Verlorenheit. Es ist unbestritten, dass es neue Überlegungen und Strategien braucht, um für die großen Wunden unserer Zeit etwas Heilendes anzubieten. Wir wollen zumindest versuchen, den gefährlichen Gräben zwischen den Erfolgreichen und den (Krisen-)Verlierern etwas Trostreiches entgegenzuhalten. Die immer wiederkehrenden Wellen psychosozialer Belastungen etwa aufgrund von Arbeitslosigkeit und einer weitverbreiteten Zukunftsangst machen einen kollektiven Tröstungsbedarf deutlich. Globale Krisen wie Klimawandel, soziale Ungleichheiten, Überalterung, Fluchtdramen und politische Destabilisierungen können in einem Trostbuch ebenfalls nicht unerwähnt bleiben.
Der entscheidende Weg aus der Verlorenheit wird immer „der andere Weg“ sein, von dem Paulus so überzeugend im „Hohelied der Liebe“ des Korintherbriefes spricht. Keine noch so weitreichende Kompetenz und Wissenschaft, keine tiefgründige Selbsterkenntnis allein und keine noch so umfassende Selbstdisziplinierung können aus der Verlorenheit führen – wenn sie nicht getragen und inspiriert wären von der Liebe. Trösten – auf den Punkt gebracht – ist die empathische Anleitung, den Weg der Liebe neu zu entdecken. Letztlich geht es nicht nur darum, selbst getröstet zu werden, sondern um die Fähigkeit und Bereitschaft zu trösten. Auf ganz geheimnisvolle Weise findet sich gerade darin Trost – für uns alle.
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