Henrys erstgeborener Sohn Arthur Middleton (1742–1787), der wie sein Vater dem ersten Continental Congress angehörte, erbte von seiner Mutter Mary Williams das Anwesen »Middleton Place« und unterzeichnete 1776 mit anderen Delegierten aus South Carolina im Kongress die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Während des Unabhängigkeitskrieges geriet er für einige Zeit in britische Gefangenschaft.
Henry Middleton, den man auch mit dem Beinamen Colonial Gentleman bedachte, ließ durch Sklavenarbeit ab 1741 in einer Biegung des Ashley Rivers, zwölf Meilen stromaufwärts von Charleston, eine beeindruckende Gartenanlage errichten, die heute zu den ältesten der USA zählt und Teil des National Heritage ist. 10Sein Enkel Henry Middleton (1770–1846) war von 1810 bis 1812 Gouverneur von South Carolina und amtierte von 1820 bis 1830 als US-Botschafter am Zarenhof in St. Petersburg. 11
1865, gegen Ende des Bürgerkriegs, wurden die Herrschaftsgebäude der Familie Middleton, die Gartenanlage und die Baumwollplantagen von General Shermans Unionstruppen zerstört und alle Sklaven befreit. Weitere Zerstörungen der Besitzungen brachte ein Erdbeben 1886. Ein Flügel des dreistöckigen Haupthauses blieb erhalten und dient heute als Museum.
Ganz im Sinne dieser Familientraditionen führte Carl von Schirach in Weimar ein herrschaftliches Haus mit Wirtschafterin, Köchin, einem »Silberdiener« und weiteren Bediensteten. 12Im Gegensatz dazu war Baldurs Großvater Friedrich Karl, in der Familie nur »Fritz« gerufen, ein eher spartanisch lebender ehemaliger Offizier, der unter dem Namen Frederick C(harles) von Schirach im Amerikanischen Bürgerkrieg aufseiten der Nordstaaten gekämpft hatte. In der zweiten Schlacht am Bull Run in Virginia war er am 29. August 1862 als First Lieutenant schwer verwundet worden und hatte nur durch eine Teilamputation des rechten Beins überlebt. 13Er hielt 1865 an der Bahre des ermordeten US-Präsidenten Abraham Lincoln die Ehrenwache, wobei er alle Mühe hatte, Trauergäste abzuwehren, die versuchten, ein Stück des Leichentuches herauszuschneiden. 14Ein Jahr später trat er mit einem Bein aus Kork wieder in den aktiven Dienst, 1867 wurde er für seine Verdienste – for gallant and meritorious services during the war – zum Captain ernannt, 1870 ging er in Pension, 1904 erfolgte die Ernennung zum Major Retired U. S. Army. Der Kriegsheld der Nordstaaten, der zeitlebens amerikanischer Staatsbürger blieb, heiratete 1869 in der St. Paul Church von Chestnut Hill Elizabeth Baily Norris, die Tochter des erfolgreichen Eisenbahnpioniers Richard Norris, der mit seiner legendären Lokomotive »George Washington« berühmt geworden war. Im Februar 1871 kehrte Karl Friedrich von Schirach mit seiner Familie nach Deutschland zurück, seine Frau Elizabeth verstarb bereits 1873, kurz nach der Geburt von Sohn Carl, in Wiesbaden.
In seiner autobiografischen Skizze von 1940 beschreibt Baldur von Schirach seine Kindheit und Jugend in Weimar nur ganz knapp, in seiner Verteidigungsstrategie vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1946 sollte diese Zeit jedoch eine zentrale Rolle spielen. Die erfahrenen ideologischen Einflüsse deutete er allerdings völlig um.
Um zu verstehen, warum er so früh aktiv die Nähe zu Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus suchte, ist es notwendig, vor allem die Widersprüche in seinen Darstellungen und Erinnerungen genauer in den Blick zu nehmen. Sie zeigen, dass die ideologischen Prägungen bereits vor dem persönlichen Treffen mit Adolf Hitler 1925 in der Persönlichkeit des heranwachsenden Gymnasiasten verankert waren. Daher wird im Folgenden sein persönliches Umfeld in Weimar genauer betrachtet.
Mächtiger Großgrundbesitzer und einflussreicher Politiker: Henry Middleton bestimmte die Geschicke South Carolinas mit. Ölgemälde von Benjamin West, um 1771.
Einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten: Arthur Middleton war 1776 Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung. Ölgemälde von Benjamin West, um 1771.
Der Urgroßvater baute Lokomotiven: Die Fabrik von William Norris in Philadelphia lieferte ihre Maschinen auch nach Europa.
Baldur von Schirach wurde noch vor dem Umzug der Familie nach Weimar am 9. Mai 1907 im Haus Blücherstraße 17 in Berlin-Kreuzberg geboren. Die Wohnung lag in der Nähe des väterlichen Arbeitsplatzes: der Kaserne des Garde-Kürassier-Regiments beim Tempelhofer Feld, in der Vater Carl Baily Norris als Oberleutnant und später als Schwadrons-Chef diente und als Rittmeister seinen Abschied nahm. Begonnen hatte er seine Militärkarriere beim 1. Badischen Leib-Dragoner-Regiment in Karlsruhe.
Mutter Emma fühlte sich in Berlin, wie Schirach in seinen Memoiren erzählt, 15sehr wohl, Kaiser Wilhelm II. pflegte sich auf Empfängen auf Englisch mit ihr zu unterhalten. Weimar habe sie später im Vergleich zu Berlin als »eng und provinziell« empfunden, vor allem aber hätte sie das steife Zeremoniell am großherzoglichen Hof gehasst, dem die Familie nicht entgehen konnte – war der Vater doch auch großherzoglicher Kammerherr. Als solcher musste er zu offiziellen Anlässen die traditionelle Hoftracht anlegen, bestehend aus dunkelgrünem Frack, Kniehosen, Degen und Zweispitz, eine »Maskerade«, die für die drei Kinder Rosalind, Karl und Baldur zu einem besonderen Vergnügen wurde.
Der Tagesablauf im herrschaftlichen Haushalt der Familie Schirach war streng geregelt – u. a. auch mit einem traditionellen High Tea um 17 Uhr. Auffallend ist, dass Baldur von Schirach in seinen Erinnerungen kaum Näheres über das Familienleben erzählt. Auch seine Ehefrau Henriette von Schirach überliefert nur fragmentarische Eindrücke vom Wohlstand im Haus in der Gartenstraße 37, der heutigen Abraham-Lincoln-Straße in Weimar. So erinnert sie sich in der US-Internierung an das Frackhemd ihres Schwiegervaters. 16Seinem Sohn Richard gelang es später, die wenigen Informationen über diesen fast hocharistokratischen Lebensstil in seinem Buch Der Schatten meines Vaters zu einem Bild zusammenzufügen.
Behütete Kindheit und Jugend im großbürgerlichen Elternhaus: der zehnjährige Baldur von Schirach mit seinem Hund.
Schwester Rosalind von Schirach war um neun Jahre älter und startete nach dem Ersten Weltkrieg eine Karriere als Opernsängerin.
Frack, Degen, Kniehosen, Zweispitz: Vater Carl von Schirach im »Kostüm« eines großherzoglichen Kammerherren. Zeichnung, Hauptstaatsarchiv Weimar, Landesarchiv Thüringen.
Ein genauer Blick auf die Aufführungspraxis des Intendanten Carl von Schirach bis zum Ende der Monarchie bzw. bis zur Abdankung von Großherzog Wilhelm Ernst sowie der Entlassung Schirachs im Jänner 1919 zeigt, dass er ein konservatives Programm umsetzte und für diesen Posten als Theateramateur mit Hauptberuf Offizier nicht wirklich geeignet war. Ein enger Kontakt entstand damals bereits zum rechtskonservativ-völkischen Literaturkritiker Adolf Bartels, der wie die Vorfahren der Schirachs aus Schleswig-Holstein stammte. Obwohl Bartels keine abgeschlossene akademische Ausbildung hatte, sondern nur ein verbummeltes Studium vorweisen konnte, wurde er 1905 durch Großherzog Wilhelm Ernst zum Professor h. c. ernannt. Er galt mit seiner erstmals 1897 und dann mehrfach aufgelegten Literaturgeschichte Die Deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen als bedeutendster Vertreter der deutsch-völkischen und antisemitischen Literaturkritik, obwohl er in seiner Studienzeit eher philosemitisch eingestellt war. Eben dieses antisemitische Machwerk eines Dilettanten bezeichnete Baldur von Schirach im Rahmen der Nürnberger Prozesse als prägende Schlüsselliteratur seiner Jugend.
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