Inwieweit Schirach tatsächlich Hitler vor dem Angriff auf die Sowjetunion bzw. dem Krieg mit den USA gewarnt hat, wird ebenso diskutiert wie die Auseinandersetzung zwischen Hitler und Henriette von Schirach am Berghof wegen der brutalen Deportation der Juden aus den Niederlanden. Gleichzeitig brüstete sich Schirach zum Missfallen von Goebbels, der internationale negative Reaktionen fürchtete, mit der Deportation der Wiener Juden (»Ich habe Wien Judenfrei gemacht«) und kündigte an, Wien »tschechenfrei« zu machen –tatsächlich begann die Gestapo entsprechende Karteien anzulegen.
Schirach hatte durchaus politische Ambitionen, die weit über seinen Gau hinausgingen: So nützte er geschickt die Propaganda um den 150. Todestag von Wolfgang Amadeus Mozart 1941, um eine Art »Europäische Ideologie« unter deutscher Führung zu propagieren und damit die deutsche Besetzung weiter Teile Europas langfristig zu rechtfertigen und mit kultureller Hegemonie abzusichern. Hier intensivierte er seine alten Kontakte mit den faschistischen italienischen Jugendführern, organisierte europäische Jugendkongresse und Journalistentreffen. Letztlich wollte Hitler zwar Schirach ablösen lassen, da dieser Wien nicht als Festung verteidigen wollte, aber wagte diesen Schritt doch nicht, da Schirach die Stadt kulturpolitisch fest im Griff hatte und sehr rasch dann auch auf einen militärischen Verteidigungskurs umschwenkte.
In letzter Minute ist Schirach vor der Roten Armee aus Wien geflohen, nicht ohne ab 1944 seine Kunstschätze aus der »arisierten« Villa auf der Hohen Warte in Döbling – viele davon aus dem Vermögen von Juden und Jüdinnen geraubt – Richtung Westen verbringen zu lassen.
Mit einer geschickten Verteidigungsstrategie beim Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg 1946 rettete er sich vor der drohenden Hinrichtung, wobei seine adelig-bürgerliche und teilweise amerikanische Herkunft ein Vorteil waren und auch seine Bereitschaft, für seine Rolle als Reichsjugendführer Verantwortung zu übernehmen, aber gleichzeitig deren Bedeutung als ideologische und militärische Vorfeldorganisation herunterzuspielen. Seine Erinnerungen und Reflexionen aus 1967 über Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus, die Rolle von Hitler und anderen NS-Akteuren und die Shoa und Antisemitismus werden ebenso kritisch auf der Basis seiner Original-Interview-Transkripte mit neuem Quellenmaterial und umfassenden Forschungen – nicht zuletzt im einzig digitalisierten Gaupressearchiv in Wien – hinterfragt.
Die zentrale Frage bleibt: Inwieweit ist die meist verdrängte ideologische Vorgeschichte der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich und seiner adelige-bürgerlichen Eliten vor 1914 ein wesentlicher Erklärungsansatz für die Wirkungsmacht und die lange Dauer des nationalsozialistischen Unrechtsregimes? Als Folge der ersten Turboglobalisierung, Industrialisierung und europäischen Binnenmigration boomten bei gleichzeitiger Innovation um die erste Moderne antisemitische Rassen- und Verschwörungstheorien, die seit Ende des Ersten Weltkrieges in aggressiver Weise explodierten. Ihre elitären Protagonisten, zu denen auch Carl von Schirach, sein intellektuelles und künstlerisches Umfeld und sein Sohn gehörten, bekämpften in weiterer Folge die parlamentarische Demokratie und die Weimarer Republik permanent mit allen Mitteln. Diese intensive Erosion aus bürgerlichen rechtskonservativen Netzwerken heraus war eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg der NSDAP vor und nach 1933. Der Ungeist von Weimar, der Goethe und Schiller in politische Geiselhaft genommen und für seine menschenverachtenden Ideologien missbraucht hatte, ist eine wichtige Voraussetzung für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Längst wurde er von Angehörigen der »alten« kaiserlichen und bürgerlichen Eliten umschwärmt, wie der frühe Besuch im Hause Schirachs 1925 dokumentiert. Die rasche Systemstabilisierung nach der Machtergreifung trotz vielfacher eindeutiger Gesetzesbrüche und Terrorakte ist ohne diese andere Kulturgeschichte des deutschen Kaiserreiches, die die Schirachs symbolisieren, nicht zu verstehen.
Die Rezeption und das Wissen über Baldur von Schirach ist zum Unterschied von der Auseinandersetzung mit zentralen Entscheidungsträgern des NS-Regimes und Satrapen von Hitlers Gnaden wie Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Hermann Göring und Albert Speer brüchig und durchwachsen. Die erste umfassende Biografie Baldur von Schirach, Hitlers Jugendführer von Michael Wortmann erschien bereits 1982 auf Basis einer Doktorarbeit, die revisionistische Gegenschrift von Schirachs ehemaligem Pressereferenten Günter Kaufmann 1993 wurde zu Recht kaum berücksichtigt. Die auf den Literaten und Poeten Schirach fokussierende Dissertation Writing the Nazi Movement. The Poetry of Baldur von Schirach von Stefanie Hundehege aus 2017 ist noch gesperrt, aber teilweise über Aufsätze zugänglich.
Trotzdem gibt es keine Studie über die NS-Zeit in Wien 1940–1945 – sei es nun über die Hitler-Jugend oder die »Kinderlandverschickungen« oder wie zuletzt über nationalsozialistischen Kunstraub –, in der Baldur von Schirach nicht gestreift wird. Zur »Arisierung« von Kunstwerken und der Rolle von Baldur und Henriette von Schirach gibt es eine aktuelle Vorstudie von Theresa Sepp im Rahmen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München.
Auf der Basis meiner eigenen langjährigen Arbeiten zur nationalsozialistischen Kultur- und Unkulturpolitik seit dem Buch Führertreu und gottbegnadet (1991) und jüngsten Forschungen im Zusammenhang mit der Volltext-Digitalisierung des gesamten NS-Gaupressearchivs Schirachs habe ich versucht, einen neuen kritischen Blick auf Baldur von Schirach, aber auch sein familiäres Umfeld seit der Weimarer Zeit zu werfen und die Zeit nach 1945 ebenso in den Blick zu nehmen.
Die letztlich für die Gegenwart und Zukunft zentrale Schuldfrage Baldur von Schirachs wird neu relativiert – mit bisher unbekannten Dokumenten und Erkenntnissen zum Umfang seines Wissens über die Shoa – und zwar bereits 1942 – und seine bisher nicht reflektierte Rolle bei der brutalen Verfolgung von sogenannten »Asozialen« in Wien ab 1940.
Einer der Enkel Schirachs, der ehemalige Strafverteidiger und weltbekannte Schriftsteller Ferdinand von Schirach, hat 2011 im Spiegel unmissverständlich seine Antwort gegeben:
»Das, was mein Großvater tat, ist etwas völlig anderes. Seine Verbrechen waren organisiert, sie waren systematisch, kalt und präzise. Sie wurden am Schreibtisch geplant, es gab Memoranden dazu, Besprechungen, und immer wieder traf er seine Entscheidung. Der Abtransport der Juden aus Wien sei sein Beitrag zur europäischen Kultur, sagte er damals. Nach solchen Sätzen ist jede weitere Frage, jede Psychologie überflüssig. Manchmal wird die Schuld eines Menschen so groß, dass alles andere keine Rolle mehr spielt. Natürlich, der Staat selbst war verbrecherisch, aber das entschuldigt Männer wie ihn nicht, weil sie diesen Staat erst erschufen. Mein Großvater brach nicht durch eine dünne Decke der Zivilisation, seine Entscheidungen waren kein Missgeschick, kein Zufall, keine Unachtsamkeit«. 1
Zwei Menschen möchte ich besonders für ihre Unterstützung bei der Umsetzung dieses Buchprojekts danken. Herrn Dr. Johannes Sachslehner, der als erfolgreicher Zeitgeschichte-Sachbuchautor und erfahrener Lektor die Idee zu diesem Buch hatte und die Umsetzung und die Bildredaktion bis zum Finale begleitete, und Frau Mag. aAgnes Meisinger, die mit kritischem Blick Manuskript und Druckfahnen durchgesehen und korrigiert und viele wichtige Fragen gestellt hat.
Im Zuge der Recherchen haben mich viele Kolleginnen und Kollegen unterstützt, von denen ich Daniela Ebenbauer, Dr. Christoph Mentschl, Dr. inLinda Erker, Dr. Wolfgang Form, Mag. aJutta Fuchshuber, Michael Hetz, Mag. Johann Kirchknopf, Dr. Andreas Kranebitter, Mag. aPetra Mayerhofer, Renate Moszkowicz, Univ.-Prof. Dr. Bertrand Perz, Dr. Hans Petschar, Oberstleutnant dG Dr. Markus Reisner, Univ.-Prof. Dr. Peter Roessler, Mag. Markus Stumpf, Univ.-Prof. inSybille Steinbacher, Christine von Unruh und Univ.-Prof. inKerstin von Lingen hervorheben möchte. Für ein wichtiges Hintergrundgespräch danke ich Rechtsanwalt i. R. Dr. Klaus von Schirach sowie Ferdinand von Schirach, der mir den Zugang zu der von ihm initiierten »Vorstudie zur Rekonstruktion des Kunst- und Kulturguts« von Baldur und Henriette von Schirach ermöglicht hat.
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