Ein schneidiger Gardeoffizier: Vater Carl Baily Norris von Schirach wechselte vom kaiserlichen Militär zum Hoftheater in Weimar.
1. VON BULL RUN ZUM GROSSHERZOGLICHEN HOFTHEATER
Die Familie Schirach auf dem Weg nach Weimar
Baldur von Schirach war im »Dritten Reich« allgegenwärtig. Die Jugendbewegung der »braunen Revolution« trug seine Handschrift. Er selbst sah sich tatsächlich als Revolutionär – als geschäftiger »Macher« im Braunhemd, zusammengeschweißt mit dem von ihm verehrten Adolf Hitler auf Gedeih und Verderb. Eine bemerkenswerte Blitzkarriere im Schatten des »Führers« hatte ihn an die politische Spitze gebracht: Baldur von Schirach, Jahrgang 1907, wurde 1925, im Alter von achtzehn Jahren, Mitglied der NSDAP. Seit 1927 trug er das Braunhemd der SA, der »Sturm Abteilung« der »Bewegung« im Zeichen des Hakenkreuzes. 1928 übernahm der junge Mann aus Weimar, der abseits des politischen Getriebes recht und schlecht Gedichte schrieb, das Amt des Reichsführers des NS-Studentenbundes, 1931 wurde er Reichsjugendführer, 1933 Jugendführer des Deutschen Reiches im Rang eines Staatssekretärs. Schirach gelang es, sich im inneren Kreis der Macht zu etablieren, obwohl er unter den gestandenen Parteigenossen, den »Eisenfressern« aus den Freikorps und Bierkellern, wie ein »entgleister Aristokrat« 2wirkte.
Hitler und auch Goebbels schätzten ihn lange Zeit, präsentierte Schirach den »Führer« doch so, wie man es gerne sah: »als Vater seines treuen und geliebten Volkes«. 3Hitlers Image war vor allem auch die Arbeit seines jungen Paladins Schirach. Nach kurzem Kriegsdienst an der Westfront wurde Baldur von Schirach im August 1940 von Hitler als Reichsstatthalter und Gauleiter nach Wien geschickt, blieb aber Reichsleiter der NSDAP für die Jugenderziehung und Beauftragter des Führers für die Inspektion der Hitler-Jugend sowie oberster Verantwortlicher für die NS-Jugendpolitik, auch wenn sein Stellvertreter Artur Axmann Reichsjugendführer wurde. Schirach, so das Kalkül des »Führers«, sollte die Sympathien der Wienerinnen und Wiener für sich gewinnen, er interpretierte diesen Auftrag jedoch auf sehr eigene Art und Weise: Während in den Konzertsälen und auf den Bühnen der Stadt die von ihm geförderte »Wiener Kultur« glanzvolle Erfolge feierte und er sich mit viel Aufwand in europäischer Diplomatie versuchte, rollten vom Aspangbahnhof die Todeszüge in die Vernichtungslager des Ostens und starben im Landesgericht jene Frauen und Männer auf dem Schafott, die den Widerstand gegen das NS-Terrorregime gewagt hatten. Schirach wollte zwar die blutige Arbeit der Henker nicht sehen, meinte aber verkünden zu müssen, dass die Stadt unter seiner Ägide »judenfrei« geworden wäre. Als er im Frühjahr 1945 Wien gegen die anrückende Rote Armee verteidigen sollte, zeigte sich rasch, dass er dieser Aufgabe nicht gewachsen war – »seinen« Hitlerjungen blieb es überlassen, sich den russischen Panzern entgegenzustellen. Die wenig heldenhafte Flucht aus dem umkämpften Wien führte über die Anklagebank von Nürnberg in die 20-jährige Düsterkeit und Isolation einer Gefängniszelle in Berlin-Spandau …
Ein Dreiviertelamerikaner
Betrachtet man die vorliegenden autobiografischen Quellen zu Baldur von Schirach, so sind deren Schnittmengen ebenso wichtig wie die Auslassungen und Unterschiede, die erwiesenermaßen den historischen Fakten nicht entsprechen. Ein umfassendes, von Schirach approbiertes autobiografisches Dokument ist die offizielle neun Seiten lange Selbstdarstellung anlässlich seiner Ernennung zum Reichsstatthalter und Gauleiter in Wien am 8. August 1940. 4Teilweise stimmt diese auch mit dem Datengerüst der Autobiografie Schirachs, Ich glaubte an Hitler (1967), die von zwei Journalisten als Interviewer und Ghostwriter verfasst wurde, 5überein. In dem Dokument von 1940 wurde aber kein Wort über die US-amerikanische Herkunft seiner Mutter verloren.
Sein Vater Carl Baily Norris von Schirach (1873–1948) war, bevor er in das Garde-Kürassier-Regiment in Berlin eintrat, Staatsbürger der USA gewesen. 1908 quittierte er den Dienst und wurde zum Generalintendanten des Großherzoglichen Hoftheaters in Weimar bestellt. Baldurs Urgroßvater Karl Benedikt von Schirach (1790–1864) war 1855 in die USA ausgewandert, sein Großvater Friedrich Karl von Schirach (1842–1917) brachte es bis zum Major der US-Army und heiratete die Amerikanerin Elizabeth Baily Norris (1833–1873) aus Baltimore (Maryland). Baldur von Schirachs Mutter Emma Middleton Lynah Tillou (1872–1944) stammte ebenfalls aus den USA, und zwar aus Chestnut Hill, einem Vorort von Philadelphia. In seinem tabellarischen Lebenslauf von 1940 verschwieg er auch, dass er bis zu seinem sechsten Lebensjahr in einem ausschließlich englischsprachigen Umfeld aufgewachsen war und ein Jahr später als vorgesehen in die Schule ging, um vorbereitend noch fließend Deutsch zu lernen.
1939 veröffentlichte Max von Schirach, ein Cousin Baldurs, eine umfangreiche Familiengeschichte 6, in der auch die US-Verbindungen detailliert aufgeführt wurden. Offensichtlich passte dies jedoch nicht in die nationalsozialistische Propagandalinie, denn im offiziellen langen Lebenslauf aus der NS-Zeit wird auf die engen Verbindungen seiner Familie zu den USA nicht eingegangen. Erst in seinen Memoiren wagt es Schirach dann, ausführlicher von seinen amerikanischen Familienangehörigen zu erzählen.
Die durchaus aristokratisch-herrschaftlichen Lebensumstände seiner Eltern fanden da keine Erwähnung. Selbst innerhalb der Familie sorgte der luxuriöse Lebensstil der Schirachs für Aufregung, wie ein Brief aus 1897 zeigt: »Madame Filou, wie Hermann 7sie nennt – ihr Familienname ist Middleton Tillou –, hat dann auch keinen günstigen Eindruck hinterlassen, obschon sie ganz in duftigem Sommerkostüm, mit feinen Spitzen gekleidet und grande dame, comme il faut, war. Na Karl ist auch nicht besser und unter Herzögen, Prinzen, Grafen und Baronen thut ers schon nicht mehr, was seinen Umgang betrifft. Sport, Rennen und kostspielige Pferde ist außerdem so ziemlich Alles, wofür er Sinn hat, und obschon er ein schönes Vermögen hat, an 200.000 Dollar, wird er damit bald genug fertig werden.« 8
Die Großeltern väterlicherseits: US-Bürgerkriegsveteran Karl Friedrich von Schirach, der Held vom Bull Run, und Elizabeth Baily von Schirach, geborene Norris.
Mutter Emma Middleton Lynah Tillou, genannt »Nam-Nam«, stammte aus der bedeutendsten Familien South Carolinas. 1944 kommt sie bei einem Luftangriff auf Wiesbaden auf tragische Weise ums Leben.
Baldur von Schirachs Vater Carl Baily trat nach dem Abitur in Lübeck als Offizier in das Regiment der Gardes du Corps No.1 ein, dessen Chef Kaiser und König Wilhelm II. war. Bei einem Besuch bei Verwandten in den USA lernte er seine spätere Ehefrau Emma Middleton Lynah Tillou kennen, die er 1896 in Chestnut Hill heiratete.
Sie stammte mütterlicherseits aus einer der reichsten Südstaatenfamilien, die im Besitz zahlreicher Plantagen war. Emmas Urgroßvater Henry Middleton (1717–1784) beispielsweise besaß zwanzig Plantagen auf rund 200 Quadratkilometern und ungefähr 800 Sklavinnen und Sklaven. Er war ein erfolgreicher Baumwoll- und Reispflanzer, der etwa 1770 83 Millionen Pfund Reis exportierte 9), aber auch ein engagierter Politiker. Middleton bekleidete zahlreiche Ämter und stieg schließlich zu einem der wichtigsten Männer der antibritischen Politik in den Kolonien auf. Er wurde als Vertreter South Carolinas in den First Continental Congress gewählt, den er 1774/75 als Präsident leitete.
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