Doch gestern, als ich den Saal durchquerte, geschah etwas Unerwartetes. Eine junge Frau mit langer blonder Mähne schaute durch ein Fernrohr. Wie üblich versuchte ich, ihren Gesichtsausdruck zu ergründen, als ihr ein Schrei entfuhr.
Ein Urschrei. War es ein Erschrecken? War es Angst? Ich konnte den Schrei nicht einordnen, war aber aufs Höchste alarmiert. Da musste etwas gründlich schief gelaufen sein, nur so war dieser urtümliche Laut zu werten.
Ich betätigte den Rufknopf auf meinem Pager, den wir Mitarbeiter stets mit uns führen, um meine Kolleginnen und Kollegen zu alarmieren. Was hatte nur die junge Frau durch das Fernrohr gesehen? War sie nicht schwindelfrei und wurde von der Angst überwältigt, in die Tiefen einer Schlucht zu stürzen? Wähnte sie sich gar in der Eiger-Nordwand, überzeugt davon, nicht mehr herauszukommen und auf ewig Eiseskälte, Wind und Wetter ausgesetzt zu sein? Meine Kolleginnen und Kollegen eilten in den Raum und blickten sich verwundert um, ohne etwas Aussergewöhnliches zu bemerken. Darauf wollten sie von mir wissen, was vorgefallen sei. Ein Diebstahl? Ein Herzstillstand? Oder gar ein Mord? Ich zeigte mit ausgestrecktem Arm in Richtung des Fernrohrs und der Nutzerin, die, ein Auge am Okular, kreidebleich und wie festgeklebt an ihrem Platz verharrte und immer wieder kleine Schreie ausstiess.
Da fasste ich mir ein Herz, obwohl ich aus eigener Erfahrung wusste, dass ein Nachtwandler nicht aus seinen Visionen aufgeweckt werden darf, und ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob die Besucherin einem ähnlichen Syndrom erlegen war, stellte mich neben sie, nahm das freie Fernrohr in die Hand, führte das Okular an mein Auge und, mein Gott! –, als ich dieses in die gleiche Richtung wie die junge Frau einstellte, fiel mein Blick auf ein entsetzliches Untier. Ein Dinosaurier? Nein, noch viel entsetzlicher! Und das Vieh, war es überhaupt eins, bewegte sich auf mich zu. Ohne es zu wollen, stiess auch ich einen Schrei aus. Angstvoll! Laut! Ohne Rücksicht auf meine Fernrohr-Nachbarin zu nehmen. Urängste stiegen in mir hoch, und ich wollte nur noch fliehen. Stattdessen blieb ich wie festgewachsen am Ort, mein Auge auf das Monster fixiert. Waren die Besucherin und ich plötzlich durch einen Zeitsprung in die Urgeschichte unseres Landes gereist?
Ich dachte an Drachentöter, wusste jedoch, dass ich nicht unverwundbar war wie Siegfried, und dass mir Wilhelm Tell nicht helfen könnte, da er noch lange nicht geboren war.
Jetzt schrie ich laut heraus: «Hilfe, ein Untier im Relief!»
Ein Kollege – noch heute bewundere ich seinen Mut – näherte sich festen Schrittes dem Ungeheuer, klappte aus seinem Schweizer Soldatenmesser, das zusammen mit dem Schlüsselbund an seinem Gurt baumelte, die Pinzette heraus, griff damit in das Relief und – hielt eine Ameise hoch! Das Untier, wie mir sofort klar wurde. Für die junge Frau und mich hatte sich durch das so stark brechende Vergrösserungsglas eine kleine Ursache zu einem riesigen Schrecken aufgetürmt.
Am selben Abend kaufte ich aus eigener Tasche eine Ameisenfalle, damit sich der Vorfall nicht wiederholen könne.
ideen haben die menschen, fallen doch auf alles rein!
«Nostalgie schaffen, Erinnerungen auslösen, gehört auch zu den Aufgaben unseres Museums», erzählt meine Gesprächspartnerin bei einem Kaffee im Eingangsbereich des Hauses. «Wissen Sie, ein Museum ohne Emotionen, ohne die Auslösung von Gefühlen, wäre ein leeres Machwerk, eine Ansammlung von Gegenständen mit bescheidener Aussage. So haben wir ‹Leben in die Bude zu bringen›, wie mein Sohn sich ausdrücken würde. Ja, das ist eine Herausforderung, der wir uns immer wieder stellen müssen. Ein Beispiel gefällig?»
Ich nicke.
«Nun, Sie erinnern sich an das SWISSAIR-Grounding, eine tragische Angelegenheit: Unsere Nationalfluggesellschaft am Boden mit gestutzten Flügeln, eine das gesamte Volk aufwühlende Geschichte. Ich erinnere mich genau an diesen Tag. Mir kamen damals die Tränen. So viele Auslandsreisen hatte ich mit ‹unserer› Airline unternommen, war ihr immer treu. Natürlich auch, weil ich mich während meines Studiums der Kunstgeschichte sowie danach während meiner Doktorarbeit als Flugbegleiterin über Wasser hielt.
Ja, ich war so traurig, so enttäuscht. Las alle Zeitungsberichte, erforschte die Hintergründe und sass wie gebannt vor dem Fernsehschirm. Ich konnte kaum glauben, was da vor sich ging, und ich bin überzeugt, dass es zahllosen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ähnlich erging. Doch auch im Ausland bei den Stammgästen der Schweizer Airline, die insbesondere durch exzellenten Service, Pünktlichkeit und Qualität glänzte, waren gleiche Reaktionen festzustellen, wie sich in den Leserbriefspalten unserer Zeitungen zeigte.
Nun, einige Zeit später beschlossen wir, eine Nostalgie-Ausstellung der uns so am Herzen liegenden Schweizer Luftfahrt-Unternehmung zu organisieren, wohl wissend, dass wir damit die Herzen vieler Schweizerinnen und Schweizer ansprechen und wie vorhin betont, Emotionen auslösen würden – obwohl in der Zwischenzeit aus der Asche wie ein Phönix die SWISS auferstanden war.
Suppenlöffel mit Inschrift Swissair.
Also sammelten wir Material, suchten überall und wurden fündig. Von Flugzeugmodellen über Trolleys, die ich so oft gestossen hatte, bis hin zum Erste-Klasse-Geschirr, auf dem einst Kaviar kullerte, und zu Weingläsern aller Art, da gab es ein breites Sortiment in der Luxusklasse, auch elegante Champagnerkelche. Alles bereiteten wir hinter den Kulissen vor, stellten Gläser und Geschirr auf einen Trolley und machten uns dann auf zum Mittagessen und zum anschliessenden obligaten kleinen Verdauungsspaziergang.
Welch ein Schreck durchfuhr uns bei der Rückkehr! Das Geschirr, diese wertvollen Zeitzeugen, war einfach verschwunden. Diebstahl? Polizei alarmieren? Zunächst die Museumsleitung orientieren. Mir und meiner Kollegin war alles Blut aus dem Kopf gewichen. Bleich wie Leintücher waren wir. Diese wertvollen nostalgischen Stücke in Luft aufgelöst, die Ausstellung ihrer so wichtigen Zeitzeugen beraubt! Flugzeugmodelle und technische Informationen waren weniger gut geeignet, das Publikum emotional zu berühren, als die Sammlung der edlen Essgeschirre, auf die durchschnittliche Passagiere damals kaum einen Blick werfen konnten. Ich schon, war doch mein Einsatzort damals oft die Erste Klasse. Manchen Bundesrat habe ich dort bedient und ihm zugelächelt. Aber jetzt – was war zu tun? Wir sahen uns im Raum um. Möglicherweise hatte jemand das Geschirr in ein Tablar geräumt aus Angst, es könne zu Boden fallen. Doch Fehlalarm. Nirgends war ein Stück Geschirr oder eines der wertvollen SWISSAIR-Besteck-Teile zu sehen. Wir beschlossen, uns im Büro zu verschanzen, um mit geklärtem Kopf zu beratschlagen. Da ich dazu, um meine geistigen Kräfte zu aktivieren und meinen Blutdruck zu senken, einen Pfefferminztee trinken wollte, machte ich mich zunächst auf ins Café.
Und, kaum zu glauben, bei der Geschirrausgabe befand sich das SWISSAIR-Geschirr bunt gemischt unter dem normalen! Ein Stein fiel mir vom Herzen. Rasch holte ich meine Kollegin, und wir begannen auszusortieren. Wir waren gerettet.
Später bei der Recherche fanden wir heraus, dass die Reinigungskraft angenommen hatte, dieses Geschirr sei schmutzig – und zugegeben, wir hatten es zuvor nicht abgestaubt. Also hatte sie es guten Glaubens in die Abwaschmaschine geräumt, von wo aus es staubfrei und wieder glänzend unter allem anderen Geschirr unbeschädigt wieder dem Zyklus zugeführt wurde.
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