Dieses Ostervergnügen war eine tolle und wilde Raserei, alles Bisherige dieser Art übersteigend.
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Ich hatte den Eindruck, dass mein ältester Bruder mir ein besonderes Interesse zuwandte. Vielleicht war es ihm überraschend, zu erkennen, welch seltsames Früchtchen in mir herangewachsen war, von dem er so gut wie nichts wusste. Er hatte wohl anderes zu tun gehabt in den kurzen Ferienzeiten der Vergangenheit, als sich mit einem kleinen Bruder zu beschäftigen, der übrigens selbst keinen Anschluss suchte und überall eigene Wege ging. Nun aber, da Georg selber die männliche Reife erlangt hatte und ihm der für sein Alter noch kindliche Bruder ferner gerückt und fremder geworden war, schien es ihm einen Reiz zu gewähren, ihn womöglich allseitig zu ergründen.
Oder hatte er vielleicht von meinem Vater den heimlichen Auftrag dazu?
Es war nicht leicht, mich vertraulich zu machen, solange das wohlerzogene Bürgerkind dem Proletarierjungen von der Straße den Platz geräumt hatte. Denn dieser hatte in sich die Abneigung seiner Klasse gegen die höhere, ihre Verstecktheit, ihr Misstrauen und eine Scheu, man könne in die ihm liebgewordene Sphäre individueller Freiheit eingreifen.
Der für seine zehn Jahre noch überaus zarte und kindliche Knabe, der ich gewesen sein muss, hat wohl dem erwachsenen Bruder mehr als einmal Entsetzen erregt, wenn er ihn, vertraulich gemacht, in gewisse Abgründe weniger seiner Gassen- als seiner Gossenerfahrung blicken ließ. Um mich nicht kopfscheu zu machen, stellte er sich bei meinen Eröffnungen harmlos amüsiert. In Wirklichkeit, wie er mir später sagte, sind ihm die Haare zu Berge gestiegen.
Üble und schmutzige Handlungen gab es nicht zu beichten oder sonst mitzuteilen. Dagegen hatten sich umso mehr hässliche Reimereien wandernder Straßenbarden meinem Gedächtnis eingeprägt. Sie sind von einer so ausgesucht Rabelaisschen und auch zweideutigen Art, dass ich nicht daran denken kann, sie mitzuteilen. Ich hatte sie trotz aller Roheit und Gemeinheit wie etwas ganz Selbstverständliches hingenommen, allerdings auch mit einer im Grunde unbeteiligten Sachlichkeit.
Nicht ohne deutliches Unbehagen spürte ich damals, dass ich nicht mehr allenthalben so unbeachtet und ungehemmt dahinleben konnte wie bisher. Überraschende Fragen und Mahnungen meiner Mutter, eine strengere Festlegung dessen, was ich außer dem Hause tun durfte, durch den Vater und schließlich sowohl Rügen als Unterrichtsversuche meiner Schwester Johanna belästigten mich. Besonders an meiner Schwester habe ich die Empörung über den neuen Zustand immer wieder bis zur Raserei ausgelassen.
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Im Übrigen war durch Bruder Georg, der von der Familie mehr und mehr als Erwachsener behandelt wurde, ein frischer Luftzug ins Haus gekommen. Nicht nur hatte er allerlei lustige Schulgeschichten mitgebracht, er war auch erfüllt von Erlebnissen der Tanzstunde, einem Kursus, den mitzumachen ihm der Vater erlaubt hatte. Mit meiner Schwester als Dame tanzte Georg uns Polka und Wiener Walzer vor und den schweren Masurek, dessen schwierige Pas wir mit Mühe nachahmten. Der Tanzmeister mit seinen komischen Kommandos, seinen Anweisungen, die hübschen jungen Damen resolut anzufassen, wurde gleichsam leibhaftig durch seine Schilderung, und endlich wurde durch ihn unter Billigung und Genugtuung meines Vaters die Diskussion von allerlei Fragen am Familientisch in Gang gebracht.
Mein Vater schien seinen Söhnen schweigend entgegenzuleben. Er wartete gleichsam darauf, sie erwachsen zu sehen, um Stützen und Freunde an ihnen zu haben. Mit meiner Mutter gab es Meinungsverschiedenheiten, wir kannten sie gleichsam als tägliches Brot.
Mit dem Auftreten des Primaners Georg fing die Erörterung allgemeiner Fragen an, in die sich mein Vater, als ob ihn danach gehungert hätte, gern verwickelte. Sie enthoben ihn einer Isolierung, wie mir scheint, zu der er sich selbst für Jahrzehnte verurteilt hatte. Sein Wesen während dieser Zeit war wie das gegen jedermann: Schweigsamkeit, ja Unnahbarkeit. Seine Äußerungen gingen nirgend über das im sozialen Verkehr unbedingt Erforderliche hinaus; selbst meine Mutter ist vergebens immer wieder gegen die Burgmauern seiner Verschlossenheit Sturm gelaufen. Nun aber, Georg gegenüber, und somit auch Carl und mir gegenüber, trat er offen aus sich heraus.
Es gab in unserer Familie »Auftritte«. Mein und besonders Carls Temperament konnte ohne dergleichen Höhepunkte nicht auskommen. Schwester Johanna reizte uns durch geheuchelte Kälte. Sie verarbeitete ihre Auftritte innerlich. Beispiele, welche das Temperament meiner Mutter und meines Vaters durch heftige Auftritte bestätigten, sind in diesen Blättern schon angeführt. Spätere Vorfälle werden beweisen, dass mein Bruder Georg in dieser Beziehung vielleicht am stärksten belastet war und gelegentlich von einem maßlosen, höchst gefährlichen Jähzorn übermannt wurde.
Um jene Ostern trug sich dieser tragikomische Auftritt zu: Das neugebackene Denken Georgs hatte für sich die Frage entschieden, ob Jesus von Nazareth ein Mensch oder ein Gott gewesen sei. Georg hatte behauptet, er sei zwar der edelste und reinste der Menschen, die je gelebt hätten, aber doch nur ein Mensch. Wäre Jesus ein Gott gewesen und hätte er sich als eingeborener einziger Sohn Gottes gefühlt, so wäre sein Opfer kein Opfer gewesen. Wie solle auch ein Mensch den Tod erleiden, der selber von sich wisse, dass er ein Gott und dass er unsterblich sei. Und so war denn das A und O der Darlegung meines Bruders Georg am Familientisch, der auch Carl beiwohnte, dass Jesus ein Mensch und nicht Gottes Sohn wäre.
Niemand versah sich des Eindrucks, den diese Eröffnung auf den damals wohl dreizehnjährigen Bruder Carl machte. Er sprang vom Stuhl, er weinte fast vor Entrüstung und Wut. Aus seinem Munde sprudelten einige Minuten lang die heftigsten Vorwürfe: »Du wirst es büßen! Du wirst es zu büßen haben!« schrie er seinen älteren Bruder an. Was er sage, sei Blasphemie, sei Gotteslästerung, sei verbrecherischer Unglaube. Die Mutter, der Vater waren verdutzt. Dem Vertreter aufgeklärter Ideen blieb die Sprache weg. Schwester Johanna war verzückt wie bei allem, was Carl in den Augenblicken seiner idealistischen Aufschwünge äußerte. Dieser aber schloss, sich in weinender Heftigkeit überschlagend, indem er vor Georg aufstampfte, in einer Wiederholung, die nicht seine Überzeugung, sondern sein heiligstes Wissen verriet: »Ich sage dir, Jesus ist Gottes Sohn!«
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