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Es scheint, dass auch Fräulein Mathilde Jaschke, das nun verwaiste von Randowsche Pflegekind, bei dieser Unternehmung abseits blieb. Auch ohne das Trauerjahr, in dem sie stand, würde es kaum anders gewesen sein. Ihr Einfluss war, wie ich glaube, sowohl durch eigenen Entschluss wie durch den meiner Mutter ausgeschaltet, die noch einmal mütterliche Gewalt über ihre Tochter mit letzter Entschiedenheit ausübte.
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Der Abend ist schließlich herangekommen. Unser geschlossener Landauer stand vor der Tür. Meine geputzte, mit grünem Tüll drapierte Schwester wurde dem Vater vorgeführt. Er schien entsetzt. Mit einem so aufgedonnerten Frauenzimmer zu erscheinen, sei für ihn ein Ding der Unmöglichkeit. Man kann sich denken, welche Wirkung ein solches Urteil eine Viertelstunde vor Beginn des Balles bei Schwester und Mutter hatte.
Wie es in solchen Fällen üblich ist, wurde zunächst das ganze Fest in Bausch und Bogen aufgegeben. Meine Schwester schloss sich in ihrem Zimmer ein und erklärte, sie wolle zu Bette gehn. Meine Mutter, in ihren Bemühungen, mit wenig Geld etwas Kleidsames herzustellen, nach Ansicht ihres Gatten gescheitert, war außer sich. Es entspann sich ein heftiger Wortwechsel, bei dem nach und nach wieder einmal alles das zutage kam, was sie gegen ihren Mann auf dem Herzen hatte.
»Das ist es eben: du ziehst dich zurück, du bist ein einsamer Sonderling«, sagte sie. »Du magst es nicht, wenn man fröhlich ist. In unserer Familie war Fröhlichkeit und Gottesfurcht. Wir gönnten einander ein Vergnügen. Mein Vater hatte ein kleines Gehalt, er musste mit seinen Pfennigen haushalten. Aber wenn er meiner Mutter oder uns Kindern ein Vergnügen machen konnte, so gab er mit vollen Händen. Ich habe dir doch wahrhaftig zeit meines Lebens keine Kosten gemacht. Die paar seidenen Kleider, die ich besitze, und auch das, das ich anhabe, hat meine Mutter schon getragen. Ehe ich dich um einen Groschen zu bitten wage, beiße ich mir lieber die Zunge ab. Was liegt mir denn schließlich an dem Ball? Warum aber soll Hannchen nicht einmal ihr Vergnügen haben? Warum musst du uns denn alles und alles vergällen mit deiner Bitterkeit, deiner schlechten Laune, deiner Menschenfeindlichkeit? Da will ich doch lieber gar nicht leben, als immer und ewig unter einem solchen Drucke zu sein. Wenn ich denke, mein guter Vater … Wenn ich an meine liebe, gute, immer heitere Mutter denke! Aber das ist es, es herrscht hier kein Glaube, kein Gottvertrauen. In diesem Hause herrscht keine Gottesfurcht …« Und so ging es fort.
Mein Vater machte diesem überstürzten Redefluss auch dadurch kein Ende, dass er ihn wie eine Litanei behandelte, die er längst von Anfang bis zu Ende auswendig wisse. Es war nicht abzusehen, wie man nach einem solchen Präludium doch noch auf den Ball kommen könne.
Aber da griff der Halbbruder meines Vaters, der herzensgute, stotternde Onkel Gustav Hauptmann, ein, der einmal einen französischen Gast mit den Worten empfangen hatte: »Une chambre, une chambre, wenn ich fragen darf?« – Es gelang ihm, Johanna umzustimmen. Sie wurde von ihm stillschweigend in den Wagen und auf den Ball gebracht, was die Eltern zu ihrem Erstaunen erfuhren, als der Landauer, um auch sie abzuholen, wiederum vor der Krone stand. Und wirklich, nach alledem stak dann das Haupt meines Vaters unter dem riesigen Dreimaster-Tintenfass, was einen recht jähen Sprung von der Tragik zur Komik bedeutete.
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Über dem Abend stand jedoch überhaupt kein guter Stern. Ein Provisor des Apothekers Linke fühlte sich durch die grüne Farbe des Stoffes beunruhigt, den meine Schwester trug. Er stellte fest, nachdem er eine kleine Probe des Stoffes an einem Streichholz verbrannt hatte, dass er nach Knoblauch roch, also arsenikhaltig war. Der Jüngling wollte wahrscheinlich auffallen. Meine Mutter und meine Schwester lachten ihn aus. Aber er konnte nicht dafür stehen, dass meine Schwester, wenn sie tanze und transpiriere, ohne eine schwere Vergiftung davonkomme. Das war für meinen Vater zu viel. In einem Zimmer der Mendeschen Brauerei hatte er bereits ganz in der Stille sein Tintenfass und seinen Domino abgelegt. Es war noch nicht elf. Das Vergnügen hatte eigentlich noch nicht recht angefangen, als man schon wieder die Gummischuhe in der Garderobe überzog und, in Pelze vermummt, sich in verbitterter und enttäuschter Stimmung davonmachte.
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Um die Osterzeit etwa wurde für mich mein ältester Bruder Georg geboren. Allerlei kleine Begegnungen und Neckereien der vorhergehenden Jahre hatten mir ihn nicht eigentlich gegenwärtig und lebendig gemacht. Das geschah nun, da er als Oberprimaner in die Ferien kam.
Mir sind von da zwei Seiten seines Wesens erinnerlich: die eine war gleichsam ein letztes, knabenhaftes, körperliches Austoben, während die andere in einer sich reif und erwachsen gebenden Art bestand und einer damit verknüpften Neigung zu Diskussionen, die ja übrigens in der Familie lag. Und wiederum waren es religiöse Fragen, die er hauptsächlich zur Sprache brachte, was ebenso mit der Familientradition zusammenhing.
Das expansive körperliche Ausleben des Bruders, das sich gleich anfangs in einem Akt des Übermuts gegen mich richtete, hätte mich beinah ums Leben gebracht. Er zeigte mir Boxerkunststücke. Erst schlug er mich auf die oberen Armmuskeln, und ich kleiner Pix boxte weidlich zurück. Dann sagte er: »Stell dich vor mich hin!«, was ich sogleich gehorsam ausführte. Er ballte die Faust, er beugte und streckte den gestrafften Arm, wobei er mir spielerisch gegen den Magen zielte. Dann stieß er vor, mit der Absicht natürlich, noch vor der Berührung meines Körpers innezuhalten. Aber er hatte sich nicht in der Gewalt und die Entfernung falsch berechnet. So geschah es, dass mir die Faust in den Magen fuhr, mir den Atem raubte und mich stracks auf die Erde warf, wo ich mich, mit Erstickung ringend, lautlos umherwälzte.
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Georg war damals übrigens ganz besonders kämpferisch aufgelegt und fand in mir den begeisterten Partner und Gegner. Mit langen, biegsamen Weidengerten schlugen wir aufeinander ein. Das Kampfspiel war nach Art einer Jagd arrangiert, bei der Georg das Wild, Bruder Carl, ich und einige bevorzugte Dorfjungen die Meute waren. Der Kraftüberschwang des vom vielen Sitzen und Büffeln übersättigten Primaners führte bei dieser Hetz über Treppen, Korridore und Dachböden, durch Säle, Küchen, Ställe und Gärten, über Zäune, Leitern und flache Dächer hinweg, wohin wir ihm überall unentwegt nachstürmten. Gnade in der Verteidigung kannte er nicht. Und ich, wie ich wahrheitsgemäß zu berichten habe, keine Furcht. Es war ein Mut, der damit rechnete, dass nur Schmerz, nicht aber der Tod in Frage kam. Und Schmerz zu erleiden schreckte mich nicht. Die Schläge der Weidengerte sausten umsonst in mein Gesicht und ließen große Schwielen darauf zurück. Keinen Augenblick hemmten sie mein entschlossenes Vorgehen. So trug auch Georg seine Schwielen davon.
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