Es hieß am gleichen Nachmittag, der arme hübsche Junge sei auf der Promenade einer Generalin buchstäblich aufgehuckt, also auf den Rücken gesprungen, und sei, arretiert, in Tobsucht verfallen. Unheilbar geistesgestört, steckte er wenige Tage später hinter den Gitterstangen einer Irrenanstalt.
Es war das erste Mal, dass ich die Zerstörung eines Geistes aus der Nähe beobachten konnte. Ein mir vertrauter, liebenswerter Mensch erlitt plötzlich lebendigen Leibes den geistigen Tod. Dass etwas dergleichen schon in diesem Leben möglich ist, erschwert die Antwort auf die Frage nach geistiger Unsterblichkeit und macht den Glauben daran beinah unmöglich.
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Ich befand mich damals im zehnten Jahr, genoss nach wie vor bei Brendel den Schulunterricht, erhielt von Doktor Oliviero in dessen Wohnung Geigenstunde und trieb mich die meiste Zeit in Feld, Wald, Wiese sowie noch immer auf der Kleinen Seite von Ober-, Mittel- und Nieder-Salzbrunn herum. Immer noch spukte die Indianerromantik, Robinson und das Steppenroß. Unter dem alten Birnbaum rührten wir Jungens noch immer die Trommel, machten rechtsum, linksumkehrt unter dem Befehle Grossers, des einstigen Feldwebels, und sangen: »Heil dir im Siegerkranz« – nicht mehr mit dem Schluss »Heil, König …« sondern »Heil, Kaiser, dir!« Im Herbste, als sich der Kurort geleert hatte und der eingesessene Salzbrunner zu sich selber kam, wachten die Kriegervereine auf, Feste wurden gefeiert, patriotische Reden gehalten, und besonders das Pflanzen von Friedenseichen war im Deutschen Reich allgemein. Auch in Ober-Salzbrunn wurde die Wurzel eines Eichenbäumchens nach feierlichem Aufmarsch der Schule und der Kriegsteilnehmer dem Boden anvertraut. Man gedachte dabei der Gefallenen. Durch die berühmte Waldenburger Bergkapelle wurde mezzo-forte »Ich hatt’ einen Kameraden …« intoniert und der Gesang von »Deutschland, Deutschland über alles« begleitet.
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Diese Zeremonie wurde von mir eine Woche später in Gemeinschaft mit vielen Dorfjungens abermals mit einem besonderen Bäumchen auf einem besonderen Platz ausgeführt. Wir ahmten alles getreulich nach, nur dass wir keine Kapelle hatten. Als wir das Bäumchen gepflanzt und tüchtig begossen hatten, hielt ich mit lauter Stimme die Festrede. Ich sagte: der Krieg sei gut und noch besser der Sieg, am allerbesten aber der Friede. Um seinetwillen werde ja schließlich Krieg geführt – und ich weiß genau, welche wohlige Empfindung heiterer Sicherheit sich dabei um meine Brust legte. Konnten wir damals ahnen, dass eine Friedensepoche fast ohnegleichen, von mehr als vier Jahrzehnten, vor uns und dem deutschen Volke stand?
Beim Pflanzen der Friedenseiche, das versteckt hinter dichten Hecken in einem Garten geschah, sind wir trotzdem belauscht worden. Es hatten sich außerhalb Menschen angesammelt. Als ich meine Rede beschloss, wurde mir von dort aus durch Händeklatschen und Bravorufe der erste Beifall meines Lebens bezeigt.
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Immer tiefer gerieten wir in den Herbst hinein, und am 15. November brannten zehn Lichter um meinen Geburtstagskuchen. In meinem Gedächtnis ist dieser Tag verzeichnet gleichsam als epochaler Augenblick. Höchstens drei- oder viermal hat es einen solchen gegeben im ersten Vierteljahrhundert meines Daseinskampfs.
Was war es? Was verlieh dem Zehnlichtertag diese Wichtigkeit? Die Frage ist heut nicht mehr leicht zu beantworten. Gewiss ist, sie lag in meinem Geiste, denn hier fand eine bishin unmögliche Art von Einkehr statt. Es war, als wenn ich jetzt erst zum Denken erweckt würde.
Eine Erfahrung, die ich gemacht hatte, war das immer schnellere Entschwinden der Zeit. Ein Tag, der mir früher endlos erschienen war, wurde jetzt, in unendlicher Kette, vom nächsten im Handumdrehen abgelöst. Hatte ich in diesem einen Jahrzehnt meine bodenständige Welt so durch und durch kennengelernt, dass sie mir nichts Neues bieten konnte und etwas wie stumpfe Gleichgültigkeit bei mir herrschend ward, wodurch sich dann der Tag ohne neue Erkenntniswerte schnell und gleichgültig abgehaspelt hätte? Eine gewisse kindlich-selbstverständliche, fast gedankenlose Art der Lebensführung hatte sich in der Tat zum größten Teil ausgelebt.
Eine Art Reue kam mich an, als ob ich eine unendliche Reihe vorüberfliehender Tage nicht genügend benützt hätte; beileibe nicht etwa im Sinne Brendels oder sonst eines Schulmeisters. Ich erkannte vielmehr in dem Geschenk eines Tages, in der Darbietung einer solchen Sonnenfrist eine ungeheure Kostbarkeit. Wollte ich ihren Verlust überhaupt nicht wahrhaben, so erst recht nicht ihre Verschleuderung.
Andrerseits strebte mein innerer Blick plötzlich in die Zukunft hinaus: nicht das Morgen, das Übermorgen, das Weihnachtsfest oder sonst eines im Jahreslauf war mehr sein Ziel, sondern er verlor sich im Unergründlichen. Anhaltspunkte für kosmische oder transzendente Erkenntnis suchte er diesmal nicht, sondern solche, die Aufschlüsse über mein eigenes wartendes Schicksal bringen konnten. Dieser neue, ausdrucksvolle Blick jedoch wurde zugleich von einer Mauer gehemmt, die er zu meiner Pein nicht durchdringen konnte.
Hatte ich dereinst meine Einmaligkeit und damit mein unverbrüchliches Alleinsein erkannt, so sah ich mich heut zum ersten Mal einem neblichten Schicksal gegenübergestellt, das ich allein zu tragen hatte. Wie würde es nach der Enthüllung aussehen? Welche Lasten lud es mir auf?
Das große Fragezeichen blieb fortan vor meiner Seele wie ein Memento aufgerichtet. Dahinter war eine wolkenhafte Finsternis, in welcher Drohungen wetterleuchteten. Gott sei Dank war das Ganze mit einer Himmelsrichtung verknüpft, während die übrigen und die dazwischenliegenden Punkte meines Gesichtskreises frei waren. Durch einen dieser Punkte fand sich ein Radius vom Zentrum hinausgeführt. Er glich einem silbernen Strahl, der sich allerdings auch im Raume verlor, aber gleichsam in einem silbernen Nebel.
Nie eigentlich gab es in unserm Hause private Gesellschaft. Sommers konnte davon nicht die Rede sein, und da meine Mutter sich im Allgemeinen an Kaffeekränzchen und dergleichen nicht beteiligte, fehlte auch im Winter die Veranlassung. Vater und Mutter pflegten im Ort keinerlei Geselligkeit, eher mit Bewusstsein das Gegenteil.
Einmal aber wurden doch die Gemächer des ersten Stockes für den Empfang einer größeren Abendgesellschaft hergerichtet, und zwar die ganze Zimmerflucht. Alles wurde sorgsam durchwärmt. Im ersten Raume stand das Büfett mit Leckerbissen, Gläsern und geöffneten Weinflaschen, im zweiten und dritten waren Esstischchen aufgestellt, das vierte Zimmer aber hatte mein Vater zu einem Lesekabinett ausersehen, wo man allerlei Bücher und Zeitschriften durchblättern konnte, aus den sonst wenig benützten Schätzen seines Bücherschranks: Meyers Universum mit seinen schönen Illustrationen, ein dickes Prachtwerk, das, in Kupferstich reproduziert, einen großen Teil der Schätze des Berliner Museums enthielt, ein französisches Werk mit farbigen Lithografien, »Muses et fées«, und Illustrationen zur Ilias, die in einen deutschen Prosatext des Werkes eingefügt waren.
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