Durch Johannas Erfolge wurde damals Tante Elisabeth Straehler, eine der nun verwaisten Schwestern vom Dachrödenshof, aus ihrem Versteck hervorgelockt. Dass sie bereits zweiunddreißig zählte, die Nichte Johanna aber kaum siebzehn, konnte sie dieser schwer vergeben. Noch ist mir ihr Antlitz erinnerlich, dessen Nase und Mund eine gewisse Scheelsucht nicht verbergen konnten, wenn sie Johannas ansichtig ward. Da trug meine Schwester etwa ein zu kurzes Kleid, oder es war zu tief ausgeschnitten. Sie nannte es auch einen Skandal, wenn es sich durch lebhafte Farben und hübschen Schnitt auszeichnete, und stand nicht an, auf gewisse provokante Damen der Straße dabei anzuspielen. Ihr Mundwerk brachte es manchmal so weit, dass sich Hannchens Zorn in wütenden Tränen austobte.
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Die Reste des Geistes vom Dachrödenshof standen nicht mehr im Zentrum des Orts, sondern waren gleichsam irgendwo ins Dunkel der Peripherie gerückt, besonders seit Manser erschienen war und eine angeblich ziemlich pomphafte Residenz in den langen Dienstgebäuden hinter dem Brunnenhof errichtet hatte. Für das bucklige Täntchen Auguste gilt dies indessen nur bedingt. Fromm und resigniert wie sie immer war, wurde sie nur durch das bittere Aufbäumen ihrer Schwester gegen die veränderten Umstände aufgestört und in deren seelische Miseren wieder und wieder gegen ihre Neigung hineingezogen. Gemeinsam freilich war beiden Schwestern die entschiedene Absage an die neue Zeit, die sie durchaus nicht verstehen konnten, nur dass Tante Auguste sich nicht erst jetzt von der Welt abzuwenden brauchte, da sie schon seit langem ihr Genügen in der Bibel, in Thomas a Kempis, in frommen Poesien und Musik gesucht und gefunden hatte.
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Um jene Zeit schloss ich mich auf eine fast seltsame Weise an meine Schwester an. Liebte ich sie? War es Eifersucht? Ich maßte mir jedenfalls an, sie auf mancherlei Weise zu tyrannisieren.
Ich hatte Freude an jedem heimlichen Schabernack. Hatte meine Schwester sich in den heißen Nachmittagsstunden, um zu schreiben, zu lesen oder zu ruhen, in ihr Zimmer zurückgezogen und eingeschlossen, was bei dem Gasthofbetrieb nur natürlich war, so schlich ich heran, klopfte bescheiden an die Tür und war, wenn Johanna öffnete, nicht zu sehen. Ich wiederholte diesen Streich mehrmals am Nachmittag und wurde von ihr niemals entdeckt. Blieb begreiflicherweise das bescheidene Klopfen mit der Zeit wirkungslos, so führte ich Faustschläge gegen die Tür, ein Unfug, den meine Schwester nicht überhören konnte.
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Die Verkaufsstände des Badeortes reizten um diese Zeit mehr und mehr meine Begehrlichkeit. Bald war es ein Bergkristall, eine weiße oder rote Koralle, ein Achatschälchen, das ich besitzen wollte, ein großer oder kleiner Gummiball. Einmal war ich versessen auf ein braunes ledernes Portemonnaie, das die Sonne eigenartig gebleicht hatte. Es übte eine beinahe krankhafte Anziehungskraft auf mich aus. Ich hatte mir pfennigweise, ich weiß nicht wo, Geld zusammengeschnorrt, sodass ich nahezu Dreiviertel des Preises beisammen hatte. Mit der wachsenden Summe war ich wieder und wieder zum Tische des fliegenden Händlers zurückgekehrt, aber er ließ sich durchaus nichts abmarkten. Bis zur Verzweiflung ausgehöhlt von der durch dieses Portemonnaie und seine Patina erregten Zwangsidee, pochte ich an Johannas Zimmer. Ich pochte und tobte, bis sie öffnete. Aber ich traf sie ebenso unerbittlich hart, wie der unerbittlich harte Verkäufer war.
Wenn ich von dieser kleinen Geschichte absehe, so muss ich gestehen, ich habe vielfach nur aus Freude am Ärgern meine Schwester gequält. Schwer zu sagen, welch ein letztes Gefühl von Unbefriedigtsein zugrunde lag. Vielleicht war irgendein dumpfes Hadern mit einem unverstandenen Geschick die Ursache, auf Grund eines rastlosen Unbehagens, das mich damals wohl gelegentlich überkommen hat, einer Empfindung von Sinnlosigkeit meiner Existenz. Ein hässlicher Dämon, viel ärger als Puck, hatte mich in Besitz genommen.
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Was für ein Neues wollte damals in mir aufstehen und wühlte in mir? Habe ich mich vielleicht im Spiegel der Schönheit erblickt und missbilligt? Am Ende wollte sich damals das Ende meiner unbewussten Kindhaftigkeit leise ankündigen, aber: »Suche nicht alles zu verstehen, damit dir nicht alles unverständlich bleibe«, sagt ein Philosoph. Und so lasse ich denn den Umstand auf sich beruhen, der das Rohe in mir gegen das Veredelte, das Wilde gegen das Gesetzte, das Thersiteshafte gegen das Gute, das Hässliche gegen das Schöne aufzurufen schien.
Vielleicht sah meine Schwester in meinem Verhalten mit Besorgnis Zeichen der Verwahrlosung und hatte sich mit ihrer Lehrerin Mathilde Jaschke darüber ausgesprochen. Sie nahm mich jedenfalls eines Tages zu dieser Dame und deren Pflegemutter, dem Fräulein von Randow, mit.
Beide Persönlichkeiten neigten sich mit einer großen Zartheit und Wärme zu mir. Ich durfte Tee trinken, Kuchen essen und mich in den Räumen des Hauses, genannt Kurländischer Hof, nach Belieben umsehen. Wohlfühlen konnte sich hier ein zügelloses Naturkind zunächst freilich nicht, aber es überkam mich ein heimliches Staunen, eine stille Bewunderung. Die Zimmer mit ihren antiken Möbelstücken und ihren Parkettfußböden rochen nach poliertem Holz und nach Bohnerwachs und waren mit Reseda und Goldlack in Vasen und Schalen parfümiert.
Fräulein von Randow war wohlhabend. Ich habe die hohe, würdevolle Erscheinung mit der weißen Rüschenhaube und dem schlichten grauen Habit deutlich in Erinnerung. In ihrem Besitz befand sich eine alte Vitrine, die von vier Mohren getragen wurde. Ein anderer Schrank mit vielen kleinen Schüben war mit Olivenholz fourniert und das Äußere jedes Faches mit sogenanntem Landschaftsmarmor ausgelegt. Jedes der beiden Stücke war eine Seltenheit. Aber auch alles übrige der gesamten Einrichtung war kostbar und von erlesenem Geschmack. Das Ganze, als es später durch Erbschaft an Mathilde Jaschke, hernach auf meine Schwester überging, blieb jahrzehntelang eine Fundgrube und ist trotz mancher Verkäufe und Schenkungen bis zum heutigen Tag noch nicht erschöpft.
Die selbstverständliche Freiheit und Sicherheit, mit der meine Schwester sich im Hause der adligen Dame bewegte und wie sie hier gleichsam als dazugehörig betrachtet wurde, steigerte meinen Respekt vor ihr. Und in der Tat hatte schon damals das Verhältnis des weißgelockten Fräuleins von Randow zu ihr einen mütterlichen Charakter angenommen. Ähnlich stand es mit Fräulein Jaschke, der Pflegetochter.
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