Dieser Tod, unzeitig bis zum Widersinn, gab mir zwar immer wieder zu denken, nahm mir jedoch selber nichts von meiner knabenhaften Lebenssicherheit.
*
Ich weiß nicht, wie ein neuer Brunneninspektor namens Manser zu seinem Posten gekommen und Nachfolger meines Großvaters geworden ist. Er hatte den Krieg als Feldwebel mitgemacht und war mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse für besondere Verdienste belohnt worden. Ein barscher und militärischer Ton machte ihn anfangs unbeliebt. Er unterlag hierin der Zeitmode. Auch mit meinem Vater geriet er deswegen sehr bald in Kollision. »Ich verbitte mir diesen Unteroffizierston!« waren die Worte, mit denen mein Vater eines Tages den Verkehr zwischen sich und dem neuen Manne geregelt hatte. Ob es ihn wohl milder stimmte und ob er überhaupt daran dachte, dass die Karriere seines verstorbenen Vaters, wie die Mansers im Siebziger Krieg, in den Freiheitskriegen ihre Wurzel hatte, aus denen er ebenfalls als Feldwebel und mit Auszeichnung hervorgegangen war?
Ich erinnere mich eines Vorgangs auf der Promenade, der eine Seite des neuen Geistes besonders sichtbar machte. Schon früher waren in Salzbrunn Tiroler aufgetaucht, durch die grüne, kniefreie Tracht und derbes genageltes Schuhwerk kenntlich. Einer von ihnen hatte sogar eine lebende Gemse mitgebracht. Er schob sie in einer Kiste, über die ihr Rücken und Kopf nur eben hinausragte, auf seinem Karren von Ort zu Ort: »Willst du nicht das Lämmlein hüten?« Die Ballade Friedrich Schillers vom Gemsenjäger steckte mir bereits im Kopf:
… Plötzlich aus der Felsenspalte
tritt der Geist, der Bergesalte.
Und mit seinen Götterhänden
schützt er das gequälte Tier.
›Musst du Tod und Jammer senden‹,
ruft er, ›bis herauf zu mir?
Raum für alle hat die Erde –
was verfolgst du meine Herde?‹
Man mag ermessen, welchen Eindruck mir nun die Gegenwart einer wirklichen Gemse hätte machen sollen. Aber eigentlich war ich ein wenig enttäuscht, denn das friedliche Tierchen, das sich durchaus und durchum, aber besonders durch seine Hörnchen, als wirkliche Gemse erweisen konnte, stellte sich doch auch als naher Verwandter unsrer gewöhnlichen Ziege heraus, nur schien es mir gütiger, reiner, herzlicher. Dass es sich, gewohnt an den Glanz und die Freiheit alpiner Schneegipfel, in seiner Kiste wohlfühlte, glaubte ich nicht, obgleich es sich für gereichte Grasbüschel und Blätter dankbar erzeigte.
Ein anderer Tiroler, zwar ohne Gemse, erschien auf der überfüllten Promenade eines Julinachmittags. Die Kurkapelle musizierte mit besonderer Verve in ihrem Pavillon. Mein Onkel Hermann, der Badearzt, im grauen Gehrock und grauen Zylinder, sowie seine Kollegen, Doktor Valentiner und Sanitätsrat Biefel, nicht minder elegant, lagen wie immer vor dem Portal des Brunnenhauses peripatetisch 1ihrer Praxis ob. Schwindsüchtige und Gesunde promenierten durcheinander, jeder das Glas mit kaltem oder gewärmtem Brunnen oder einem Gemisch von Eselsmolken und Brunnen in der Hand.
Der sauber und stilecht kostümierte Tiroler war ein schöner, zwischen sechzig und siebzig stehender alter Mann mit kraftvoll gebräunten Knien und prächtigen Schultern. Sein gewaltiger Schnurrbart, der kein dunkles Haar zeigte, war wohlgewachsen und wohlgewichst, sein dichtes, schneeweißes Haupthaar desgleichen. Wie eine glänzende, bürstenartige Kappe stand es um seinen Kopf.
Das Wohlgefallen war groß, wo immer dies Musterexemplar eines Steiermärkers, Kärntners oder Pinzgauers vorüberkam. Man wurde dann allgemein auf ihn aufmerksam, als er sich vor dem Musiktempel unter den Augen der Kurkapelle und ihres Dirigenten zu tun machte.
Seine Vorkehrungen, die ich wie alle, die sie sahen, mit einer Art heiteren Spannung verfolgte, zeigten eine gewissermaßen humoristische Seltsamkeit. Er rückte zunächst eine kleine, quadratische, frisch gehobelte Kiste im Gartenkies zurecht, die er mit einem roten Tuch überdeckte. Es löste allgemeines Gelächter aus, als er mit seinen Nagelschuhen diesen farbigen Sockel betrat und krachend eindrückte.
Der kernige Mann ging nun ohne sein Piedestal 2dazu über, die Darbietung der Kurkapelle mit schrillem Vogelgeschmetter zu begleiten, was, wäre es nicht so rührend naiv gewesen, ohne Zweifel ein Unfug war. Als er seine Kunst eine Weile zum Ergötzen der Promenade ausgeübt hatte, sah man drei Brunnenschöpfer in schlesischer Bauerntracht, mit langen Schaftstiefeln an den Füßen, durch das bunte Gewühle schwer herantrapsen. Das Trio packte den weißhaarigen Mann, nahm ihn, nolens volens, teils am Kragen, teils bei den Händen und führte ihn trotz seinem Widerstande, seinem eigenen Proteste und dem der Kurgäste in das Kellergefängnis des Polizeigewahrsams ab. Manser, der neue Brunneninspektor, hatte, seine Kompetenz überschreitend, diese sinnlose Arretierung verfügt.
Die Empörung war allgemein. Wochenlang müssen dem neuen Manne die Ohren von keineswegs schmeichelhaften Urteilen über die Brutalität seines widersinnig-antideutschen Eingriffs geklungen haben.
Meine Schwester Johanna war aus der Pension zurückgekehrt, zu einem schönen Mädchen herangewachsen und ein wahres Musterbeispiel von Wohlerzogenheit. Sie wohnte in einem Zimmerchen des Hotels, hielt sich aber tagsüber meist im Kurländischen Hof, dem Hause des Fräuleins von Randow, auf, deren Pflegetochter, Fräulein Jaschke, eine geprüfte Lehrerin, ihr Unterricht im Französischen gab und überhaupt ihre Erziehung fortsetzte.
Wie Johanna jetzt mit Messer und Gabel bei Tisch verfuhr, erregte mir staunende Bewunderung. Die englische Art und Weise zu essen, bei der man um nichts in der Welt das Messer zwischen die Lippen bringen durfte, war damals aufgekommen. Selbstverständlich, dass Johanna geschmackvoll gekleidet war und dass ihr gesamtes Auftreten nunmehr dem einer Tochter aus gutem Hause entsprach. So war ich überaus stolz auf sie, obgleich ich mich zu ähnlich abgezirkelten Formen, was mich selbst betraf, keineswegs verstehen konnte.
Wenn ich mich mit meiner schönen Schwester damals in den Promenaden zeigen konnte, fand sich dagegen mein Familienstolz aufs höchste befriedigt.
Beständig schien sie Geburtstag zu haben, wenn man die Huldigungen durch Konfekt und Blumen berücksichtigte, mit denen tagaus, tagein ihr Zimmer bedacht wurde.
Ein besonderer Verehrer Johannas war der alte Ostelbier 3Huhn, derselbe, der mir einmal das Danaergeschenk des Rollwagens mit vier Pferden in einem Verkaufsstand der Elisenhalle aufgedrängt hatte. Auch Gustav Hauptmann, wie selbstverständlich, huldigte ihr. Es war nicht das erste Mal, dass einer hübschen Nichte gegenüber der Onkel in den Courmacher überging.
Читать дальше