Zu wissen, dass wir es nicht wissen (oder gewöhnlich nur teilweise wissen), kann zu enormen Lichtblicken im Herzen und im Geist führen und zu Potenzialen orthogonaler Art, die ansonsten nicht möglich wären. Erinnern Sie sich, was der koreanische Zen-Meister Soen Sa Nim (Bände 1 und 3) mit Leuten machte, die an irgendeiner Position festhielten. »Wenn Sie sagen, dies sei ein Stock oder eine Uhr oder ein Tisch, eine gute Situation oder eine schlechte Situation oder die Wahrheit, dann gebe ich Ihnen dreißig Schläge (metaphorisch natürlich – er hat nie jemanden geschlagen). Und wenn Sie sagen, dies sei kein Stock, keine Uhr, kein Tisch, keine gute Situation oder keine schlechte Situation oder die Wahrheit, dann gebe ich Ihnen dreißig Schläge. Was tun Sie?«
Bedenken Sie: Er erinnert uns eigentlich daran, aus diesem Schwarz-Weiß-Denken, diesem Freund-Feind-Denken, diesem ständigen »Ist es gut oder schlecht?« aufzuwachen. Es war ein Akt des Mitgefühls, uns in diese Zwickmühle zu bringen oder uns aufzuzeigen, dass wir das ja dauernd selber tun.
Ja, was tun? Was tun? Sollen wir die Dinge denn nicht beim Namen nennen? Was ist mit Völkermord, Mord, Ausbeutung, Wirtschaftskriminalität, politischer Korruption, institutionalisierten Strategien der Täuschung (im Internet und anderswo), strukturellem Rassismus und Ungerechtigkeit? Ja, natürlich können wir die Dinge beim Namen nennen, und manchmal haben wir sogar die moralische Pflicht, aufzustehen und sie zu benennen, wenn wir tatsächlich Bescheid wissen. Aber wenn Sie Bescheid wissen, wenn Sie die fragliche Sache wirklich klar sehen und nicht einfach an einem Vorurteil festhalten, dann werden Sie auch sofort sehen, dass es vielleicht nicht das Einzige oder Wichtigste ist, das Ding beim Namen zu nennen, besonders wenn das alles ist, was Sie tun. Es könnte etwas geben, das in dieser Situation angemessener ist, als nur einen Begriff oder ein Etikett hinzustellen, ganz gleich, wie wichtig es ist, aufzustehen und das, was geschieht, beim Namen zu nennen – und es ist extrem wichtig. Es kann auch zwingend notwendig sein, zu handeln, und zwar klug zu handeln, um einen konkreten, lebendigen Weg zu finden, auf dem man mit dem, was sich entwickelt, auf integere und würdevolle Weise eine Beziehung aufbauen kann. Etwas, was Sie vielleicht tatsächlich tun können, das über bloßes Benennen oder gar Beschimpfen hinausgeht oder darüber, lediglich mit Gleichgesinnten einer Meinung zu sein.
Wenn es im wörtlichen Sinne um »Dinge« ginge, die beim Namen zu nennen sind, wäre es wohl angemessen, sie in die Hand zu nehmen, etwas mit ihnen zu arbeiten und andere dazu zu bringen, mitzumachen. In jedem Moment so zu handeln, dass unsere Erkenntnis leibhaftig zum Ausdruck kommt, wäre das Beste, was wir in jedem Moment tun können, und auf diese Weise würden wir uns schrittweise in Richtung Weisheit bewegen, wenn wir bereit wären, aus den Konsequenzen unserer Handlungen zu lernen. Alles andere kann sehr schnell zu leerem Gerede werden. Der Politiker, der sich um ein Amt bewirbt, nennt die Dinge beim Namen und sagt, es müsse etwas geschehen. Doch wie kommt es, dass seine (oder ihre) Ansichten über diese »Dinge« sich so schnell und so radikal ändern, sobald er oder sie im Amt ist? Metaphorisch gesprochen, ist dieses jeweilige »Ding« oder Thema immer noch da. Oder war es im Moment der Wahlkampfrede nur deshalb ein Thema, weil es ihr gerade in den Kram passte und es ein nützliches Werkzeug zu einem ganz anderen Zweck war?
Bertrand Russell paraphrasierend könnte man sagen, dass die Menschen gelernt haben, durch die Luft zu fliegen und in die Tiefen des Meeres hinabzutauchen. Aber wir haben noch nicht gelernt, auf dem Festland zu leben. Die letzte Herausforderung für uns ist nicht der Ozean oder der Weltraum, so interessant und verlockend sie auch sein mögen. Die letzte, die wichtigste und dringlichste Herausforderung für uns sind der menschliche Geist und das menschliche Herz. Sie besteht darin, dass wir uns selbst erkennen, und zwar, am allerwichtigsten, von innen her! Die letzte Herausforderung ist eigentlich das Bewusstsein selbst. In ihr kommt alles zusammen, was wir wissen, alle Weisheitstraditionen aller Völker auf diesem Planeten, einschließlich all der verschiedenen Arten des Wissens – durch Wissenschaft, Kunst, alte Stammeskulturen, durch meditatives Erforschen, durch lebendig-konkrete Achtsamkeitpraktiken. Das ist die Herausforderung unserer Ära und unserer Spezies, heute, da wir weltweit auf so viele Arten miteinander vernetzt sind, dass das, was in Helsinki oder Moskau oder in Tweets aus dem Weißen Haus passiert, was in Brüssel oder Bagdad oder Kuala Lumpur passiert, oder in Mexiko-Stadt oder New York oder Washington oder Kabul oder Peking oder sonstwo, schon am nächsten Tag oder im nächsten Monat das Leben der Menschen praktisch überall und allerorten auf der Welt zutiefst beeinflussen kann. Und damit ist noch nichts über die massive Zersplitterungen gesagt, die ständig die Demokratie selbst bedrohen: die Ideale echter Inklusion und Gleichheit vor dem Gesetz, die dafür sorgen sollen, dass alle »Zellen« des politischen Gemeinwesens dieselbe »Blutversorgung« haben. Es ist das exakte Gegenteil davon, den Kopf in den Sand zu stecken und sich nur um die eigenen, eng definierten Interessen zu kümmern, die Maximierung der eigenen Sicherheit oder Zufriedenheit oder Vermögenslage. Vielmehr ist es so, dass dieses ganze Unternehmen namens Achtsamkeit und das Erforschen der Möglichkeiten, uns selbst und die Welt zu heilen, einen Weg bietet, uns sozusagen von Zeit zu Zeit in diesem »Wald« umzuschauen und seine Fülle direkt zu spüren, statt den »Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen« und sich in Einzelheiten von Bäumen und Ästen zu verlieren, so wichtig diese Einzelheiten auch sein mögen. Es erinnert uns daran, dass die verzerrende Optik engstirniger und unhinterfragter Gedanken und Meinungen – gewöhnlich getrieben von Angst, Gier, Hass und Verblendung in unterschiedlichem Ausmaß, und natürlich von einem endemischen Stammesdenken, dem jahrtausendealten Instinkt, die Welt in Freund und Feind zu unterteilen, heutzutage ausgebrütet und angeheizt von Privatsendern und sozialen Netzwerken, zu denen böswillige Aktivitäten im Internet gehören, oft Bots, sowie die übermächtige Tendenz auf allen Seiten, echte Beweise zu missachten – dass diese verzerrende Optik eine ungeheure Falle ist, die uns hindert, neue Lichtblicke und Chancen zu sehen.
Das soll nicht heißen, dass es keinen Platz gibt für Meinungen und leidenschaftlich vertretene Ansichten. Es ist nur so: Je mehr diese Ansichten die gegenseitige Durchdringung der Dinge auf der Mikro- und auf der Makro-Ebene berücksichtigen, desto größer wird auch unsere Fähigkeit, mit der Welt, mit unserer Arbeit, unserer Sehnsucht und unserer Berufung auf eine Art und Weise umzugehen, die zu mehr Weisheit und Harmonie beiträgt, nicht zu mehr Streit, Elend und Unsicherheit.
Heute haben wir, mehr als jemals zuvor, praktisch an allen Fronten sowohl individuell als auch kollektiv die unschätzbar wertvolle Gelegenheit wie auch die Werkzeuge, uns nicht in gedankenlosem Egoismus und destruktiven Gefühlen zu verrennen und uns von ihnen blenden zu lassen, sondern buchstäblich zur »Be-Sinnung« zu kommen. Wenn wir das tun, werden wir vielleicht aufwachen und das tiefe Unbehagen erkennen, das während der vergangenen zehntausend Jahre Menschheitsgeschichte zum chronischen (Krankheits-)Zustand der Welt und unserer Spezies geworden ist. Wir werden praktische Schritte unternehmen, um neue Wege des Gleichgewichts und der Harmonie in der Art und Weise, wie wir unser Leben als Individuen führen und die Beziehungen zwischen den Nationen gestalten, ins Auge zu fassen und aufzubauen: Wege, die dazu beitragen, unsere destruktiven Tendenzen und gelegentlich schiere Widerwärtigkeit (Geisteszustände, die nur Unwohlsein und Entfremdung im Inneren und im Äußeren stärken) zu erkennen und zu reduzieren, und die andererseits unsere Fähigkeit zur Mobilisierung und Verkörperung von Weisheit und Mitgefühl in den Entscheidungen, die wir von Moment zu Moment darüber treffen, wie wir leben müssen und was wir mit unseren kreativen Energien zur Heilung des politischen Gemeinwesens tun könnten, vergrößern.
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