Jon Kabat-Zinn
Wach werden
und unser Leben wirklich leben
Jon Kabat-Zinn
Wach werden und unser Leben wirklich leben
Wie wir Achtsamkeit im Alltag praktizieren
Aus dem amerikanischen Englisch
von Stephan Schuhmacher
und Mike Schäfer
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel:
Falling Awake. How to Practice Mindfulness in Everyday Life bei Hachette Books, New York, USA.
Dieses Buch wurde erstmals 2006 als Teil des Buchs
„Zur Besinnung kommen“ im Arbor Verlag 2005 veröffentlicht.
1. Auflage 2019
© 2019 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg
Copyright der Originalausgabe © 2018 by Jon Kabat-Zinn, Ph.D. This edition published by arrangement with Hachette Books, New York, New York, USA. All rights reserved.
Titelfoto: ©2019 Samuli Vainionpää/gettyimages.de
Hergestellt von mediengenossen.de
E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net
Alle Rechte vorbehalten
E-Book 2020
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book 978-3-86781-302-0
für Myla
für Stella, Asa und Toby
für Will und Teresa
für Naushon
für Serena
in Erinnerung an Sally und Elvin
sowie Howie und Roz
und für all jene, denen das am Herzen liegt,
was möglich ist
was ist, wie es ist
die sich bemühen um
Weisheit
Klarheit
Güte
und Liebe
Inhalt
Vorwort Was meinen wir, wenn wir sagen, wir „kultivieren Achtsamkeit“?
Erster Teil Das Mysterium der Sinne und die Magie des Sinnlichen
Sehen
Gesehen werden
Hören
Landschaften des Hörens
Landschaften der Luft
Landschaften des Berührens
In Fühlung mit deiner Haut
Landschaften des Riechens
Landschaften des Schmeckens
Landschaften des Geistes
Die Landschaft des Jetzt
Zweiter Teil Sich auf die Praxis einlassen: Achtsamkeit kosten
Meditationen im Liegen
Meditationen im Sitzen
Meditationen im Stehen
Meditationen im Gehen
Yoga
Einfach wissen
Bloßes Hören
Bloßes Atmen
Die Meditation der liebevollen Güte
Mache ich es richtig?
Was uns häufig am Praktizieren hindert
Hilfen für Ihre Praxis
Danksagung
Literatur
Über den Autor
Vorwort
Was meinen wir, wenn wir sagen, wir „kultivieren Achtsamkeit“?
Es ist keine Frage, dass Achtsamkeit eines der Dinge dieser Welt ist, das kontinuierlich in unser Leben einzubeziehen uns Menschen enorm schwerfällt (obwohl sie ja kein „Ding“ ist). Und das, obwohl wir sie kosten können und diesen Geschmack sofort wiedererkennen. Jedes Mal.
Die Einladung lautet immer gleich: Halte einen Moment inne – nur einen Moment – und lass dich in die Wachheit hineinfallen. Das ist alles. Halt inne und lass los: soll heißen, falle in das Erleben deines Daseins und halte es im Gewahrsein, auch wenn es nur ein winziger Moment ist. Augenblicklich – oder anders ausgedrückt: in diesem zeitlosen Moment namens „jetzt“ (dem einzigen Moment, den wir überhaupt jemals haben).
Glücklicherweise gibt es, wenn wir diesen Moment verpassen – weil wir von irgendetwas abgelenkt sind, in Gedanken oder Emotionen verstrickt sind, im Trubel all der Dinge, die scheinbar ständig irgendwie erledigt werden müssen –, den nächsten Moment, in dem wir wieder anfangen können. Anhalten und in die Wachheit fallen, in diesem Moment des Jetzt.
Es scheint so einfach. Ist es auch.
Aber es ist nicht leicht.
Mehr noch, und einmal anders betrachtet: Ein Moment der Achtsamkeit, mit keiner Agenda außer der, bewusst da zu sein, gehört für uns Menschen so ziemlich zu den am schwersten erreichbaren Dingen. Noch schwieriger ist es für uns, zwei Momente der Achtsamkeit aneinander zu knüpfen.
Und doch geht es bei Achtsamkeit paradoxerweise überhaupt nicht darum, irgendetwas zu tun. Im Gegenteil, sie ist ein Nicht-Tun, ein radikales Nicht-Tun. Und in jedem Moment des Nicht-Tuns liegen Friede, Einsicht, Kreativität und neue Möglichkeiten, trotz alter Denk- und Lebens-Gewohnheiten. Genau in diesem, in jedem Moment des Nicht-Tuns sind Sie bereits okay, bereits vollkommen, in dem Sinne, dass Sie vollkommen Sie selbst sind. Und deshalb sind Sie genau in diesem Moment bereits zu Hause, auf eine tiefreichende Art, viel tiefer als alles, was Sie über sich denken, tiefer als die Ideen und Meinungen, die Ihre Perspektive für das große Ganze prägen und manchmal schmerzhaft einengen. Ganz zu schweigen von Ihren eigenen Möglichkeiten, diese Ganzheit zu erleben und davon zu profitieren. Am interessantesten von allen ist die Erkenntnis, dass es keinen „anderen Moment“ zu einem anderen Zeitpunkt gibt – außer im Denken. In Wirklichkeit gibt es nur diesen einen Moment, um da zu sein.
All das bedeutet überhaupt nicht, dass Sie im praktischen Leben nichts geschafft kriegen. Im Gegenteil, wenn Ihr Tun wirklich aus Ihrem Sein kommt, wenn es wirklich ein Nicht-Tun ist, ist es ein viel besseres Tun und viel kreativer, ja sogar müheloser, als wenn Sie sich ohne kontinuierliches, jeden Moment neues Gewahrsein abmühen, ihre Angelegenheiten auf die Reihe zu bringen. Wenn unser Tun unserem Sein entspringt, wird es ein integrales und intimes Element einer Liebesaffäre mit dem Bewusst-Sein selbst und mit unserer Fähigkeit, diesen Raum in unserem Geist und Herzen zu bewohnen; ihn mit anderen zu teilen, die sich ebenfalls auf diese Art zu leben eingelassen haben – potenziell also mit uns allen.
Und natürlich bedeutet all das überhaupt nicht – und das wird in den vier Bänden dieser Reihe ziemlich detailliert beschrieben –, dass immer angenehm sein wird, was Sie erleben, ob nun in der formellen Meditationspraxis oder in der Entwicklung Ihres Lebens. Kann es nicht sein und wird es nicht sein. Der einzige Grund, warum Achtsamkeit einen Wert hat, ist der: Sie ist voll und ganz dazu geeignet, mit jeder Erfahrung klug umzugehen, egal, ob angenehm, unangenehm oder neutral, erwünscht oder unerwünscht, womöglich auch grauenerregend oder unvorstellbar. Achtsamkeit ist fähig, sich jedem Leid frontal zu stellen und es anzunehmen (wenn und falls es Leiden ist, was Ihr Leben in einem bestimmten Moment gerade dominiert).
In der Schule lernen wir nicht viel über das Nicht-Tun, wenn überhaupt, 1aber die meisten von uns haben als Kind Momente eines radikalen Nicht-Tuns erlebt. Eigentlich sogar haufenweise. Manchmal kommen sie als Staunen. Manchmal kommen sie als Spiel. Manchmal entstehen sie als Fürsorge für andere, als ein Moment der Freundlichkeit.
Man könnte es auch so sagen: Bei der Achtsamkeit geht es um das Da- Sein: „an- wesen -d sein“ sein wie in dem Wort „menschliches Wesen“, und um das Leben, wie es ist, wie es sich hier und jetzt entfaltet und in Gewahrsein umfangen wird. Deshalb ist dazu praktisch keine Anstrengung nötig, weil es ja bereits geschieht. Nötig ist lediglich, im direkten Erleben dieses Augenblicks wohnen zu lernen, wie er auch immer sein mag, ohne dabei notwendigerweise zu denken, er „gehöre Ihnen“. Auch das „Ihnen“ ist ja letztendlich nur ein Gedankenkonstrukt, wenn Sie es unter das Mikroskop legen und untersuchen. Wenn Sie das tun, entdecken Sie vielleicht: Was Ihrer Meinung nach Ihre Persönlichkeit ausmacht, ist nur ein sehr kleiner und zumindest teilweise unzutreffender Ausschnitt dessen, was Sie tatsächlich sind. In einem einzigen Moment können Sie erkennen, wie riesig die volle Dimensionalität Ihres Wesens wirklich ist. Sie sind bereits ganz, bereits vollständig – so, wie Sie sind. Und gleichzeitig sind Sie Teil eines viel größeren Ganzen, wie immer Sie das auch definieren wollen. Und dieses größere Ganze, nennen wir es einmal „die Welt“, hat diese voll und ganz anwesende, selbstverwirklichte Version Ihrer bitter nötig!
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