Unsere Ganzheit manifestiert sich im Alltag als Wachheit, als reines Gewahrsein. Unser Gewahrsein ist eine angeborene menschliche Fähigkeit, aber eine, auf die wir kaum achten, die wir kaum würdigen oder zu bewohnen lernen. Ironischerweise aber gehört Sie Ihnen bereits, konventionell gesprochen. Sie wurden mit ihr geboren. Sie müssen sie also nicht erwerben, sondern sich einfach nur vertraut machen mit dieser Dimension Ihres eigenen Wesens. In Ihrer Fähigkeit zum Gewahrsein sind Sie „mehr Sie selbst“, und sie ist nützlicher als praktisch alles andere an Ihnen, einschließlich all Ihrer Gedanken und Meinungen (so wichtig Gedanken und Meinungen sein mögen, solange wir sie nicht glauben und an ihnen als absolute Wahrheiten festhalten).
Und weil das Paradoxe darin liegt, dass wir alle bereits wir selbst sind, in all unserer Fülle, bedeutet das: Im Kultivieren von Achtsamkeit gibt es buchstäblich kein Ziel zu erreichen, nichts zu tun und kein spezielles Erlebnis, das man haben sollte oder verpassen könnte. Die Tatsache, dass Sie in der Lage sind, überhaupt etwas zu erleben, ist an sich schon etwas Besonderes! Ironischerweise jedoch wird diese Tatsache kaum je erkannt, während wir jenem „ganz besonderen Etwas“ nachjagen, das uns irgendwie immer zu entschlüpfen oder uns zu enttäuschen scheint – vielleicht jenem perfekten meditativen Moment (in Ihrer Fantasievorstellung davon, was bei Meditation herauskommen müsste, wenn Sie sie „richtig“ machen würden).
Es gibt nichts zu erwerben, weil Ihnen nichts fehlt und nichts mangelt, auch wenn Ihnen die Gewohnheitsmuster Ihres Denkens und Haben-Wollens immer wieder etwas anderes erzählen. Sie sind bereits komplett, ganz, lebendig in diesem Moment und so, wie Sie sind, schön! „Verbesserungen“ sind weder notwendig noch möglich. Das ist alles!
Das Einzige, was uns entgeht, ist die Erkenntnis, dass das Leben sich in diesem Moment tatsächlich entfaltet – in Form Ihrer Person, in Form meiner Person –, in jeder Dimension dieser Entfaltung in zeitloser Gegenwart, die wir „jetzt“ nennen; und das Begreifen dieser Tatsächlichkeit, sodass sie erfasst und in ihrer ganzen Fülle Wirklichkeit wird. Dafür gibt es keine Worte, weil Worte, trotz aller Kraft und Schönheit wohlgesetzter Formulierungen, lediglich Elemente des Denkens über Dinge sind und deshalb vom direkten Wahrnehmen immer einen Schritt entfernt. An diesem Punkt betreten wir das Reich reiner Dichtung, in dem wir Worte benutzen, um über Worte hinauszuweisen, um zu vermitteln, was in Prosa zu sagen nicht möglich ist. An diesem Punkt berühren wir auch das, was ein Kollege 2bezeichnenderweise „implikative holistische Sinngebung“ nennt – etwas, das viel mehr einem direkten Fühlen ähnelt, einem Wissen, das uns in den Knochen steckt, im Herzen, weit entfernt von den Worten und Vorstellungen, die wir später vielleicht auf das Erlebnis anwenden. Vielleicht ist es letztendlich diese Fähigkeit, die uns aus Automaten in Menschen verwandelt. Und genau hier ist der Ort, an dem wir das Gebiet einer im ganzen Körper lebendigen Achtsamkeitspraxis betreten.
Das Geheimnisvolle am Gewahrsein ist, dass es wirklich und wahrhaftig jenseits aller Worte liegt. Es ist in unserem Wesen angelegt. Wir alle haben es bereits, haben es immer. Es ist uns näher als nah. Und doch habe ich, paradoxerweise, schon jetzt eine ganze Menge Worte gebraucht, um Sie zu einer Ahnung dessen zu verleiten, was Ihnen schon gehört, was Sie sind – was Sie in Wirklichkeit sind, einfach nur, indem Sie Mensch sind. Ich hoffe, dass dieses mein „Zeigen mit Worten“ bei Ihnen und in Ihnen Widerhall findet, auf einer tiefen intuitiven Ebene, weit weg von Worten und Geschichten.
Dieses Buch und die anderen in dieser Reihe sind voll mit Worten, mit Tausenden von Worten. Und doch sind sie alle nur Fingerzeige, Visierlinien, entlang derer Sie anpeilen, nachfühlen, nachspüren können, während Sie innehalten und loslassen, innehalten und loslassen, innehalten und ankommen, Moment für Moment. Wo? In dem, was gerade zur Hand ist, was relevant ist, Ihnen in diesem Moment ins Auge springt. In die Aktualität des Jetzt, der Dinge, wie sie sind.
Einfach? Ja! Können Sie das? Natürlich! Muss man dazu etwas machen? Eher nicht. Jein. Es sieht nur so aus, als müsste man etwas machen. Eigentlich geht es darum, ins Wachsein zu fallen. Und das ist, wie wir gesehen haben, eine Liebesaffäre mit dem, was ist, und mit dem, was im nächsten Moment möglich sein könnte, wenn wir bereit sind, im Jetzt voll da zu sein, ohne ein bestimmtes Ergebnis zu erwarten oder darauf angewiesen zu sein.
Wenn Sie denken, bei der Meditation müsse man etwas machen, dann können Sie es auch bleiben lassen – es sei denn, Sie erkennen, dass in der scheinbaren Verrücktheit oder Sinnlosigkeit des Nicht-Tuns eine Methode liegt. In der alten chinesischen Zen-Tradition wird dies manchmal als „Methode, keine Methode zu haben“ bezeichnet. Dies ist der Punkt, an dem die Einheit zwischen dem instrumentellen Ansatz (etwas tun, etwas geschafft bekommen) und dem nicht-instrumentellen Ansatz (Nicht-Tun), die ich im ersten Band behandelt habe, ins Spiel kommt. Unsere angeborene Wachheit lässt sich nicht aufbauschen, lässt sich nicht verkaufen, lässt sich nicht korrumpieren. Sie kann nur aufgezeigt und erkannt werden. Und der einzige Weg, sie zu erkennen, ist: sich selber nicht im Weg zu stehen, sondern für einen Moment einfach innezuhalten und anzukommen. Innehalten und ankommen. Innehalten und ankommen.
Ein sehr praktischer Weg, das zu tun, führt über ein bewusstes Erleben der Sinneswahrnehmungen.
Wir können also experimentieren: Ist es uns möglich, genau jetzt, in diesem Moment, „bei Sinnen“ zu sein? Können wir hören – und zwar nur das, was auch wirklich zu hören ist? Können wir sehen – und zwar nur das, was auch wirklich zu sehen ist? Können wir fühlen – und zwar nur das, was auch wirklich zu fühlen ist? Ist es uns möglich, in der Tatsächlichkeit dieses jetzigen Moments aufzuwachen und in dem, was wir „unsere eigentliche Natur“ nennen könnten – was hinter all unserem Denken, unseren Vorstellungen, Perspektiven, Weltmodellen, religiösen Lehren, Philosophien, unserer Bildung usw. liegt? Denn nichts davon ist unverzichtbar für den Prozess, in dem wir ins hellwache Dasein fallen – obwohl all diese Dinge natürlich paradoxerweise auf eine schöne Weise wichtig sein können, solange man sich nicht an sie klammert. Sich nicht zu identifizieren mit irgendetwas; nicht zu sagen: „Das bin ich, das gehört zu mir, das macht mich aus“: Das ist der Schlüssel. Denn wir haben im Grunde keine Ahnung (oder eben nur vage Ahnungen), worauf sich diese Personalpronomina der ersten Person eigentlich beziehen. Deshalb steht am Anfang und am Ende aller meditativen Übungen dieses: „Wer bin ich?“, und dann folgt das Innehalten und Ankommen in Gewahrsein, im Nicht-Wissen, hinter allem Denken. Innehalten und ankommen. Wann? Wenn Sie sich daran erinnern. Wie wäre es mit jetzt? Und jetzt? Und jetzt? Nichts muss anders werden. Sie müssen nichts tun. Nur sich erinnern.
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Während die Welt immer komplexer wird, unsere Tage aus endlosen Listen von Dingen bestehen, die erledigt und abgehakt werden müssen, oder aus Momenten, in denen wir aufgefordert werden, nicht bloß herumzustehen, sondern etwas zu unternehmen – da ist es sehr leicht, sich immer mehr in den Narrativen im Kopf zu verlieren, den Erzählungen darüber, was eigentlich vor sich geht, wo unser Platz in all dem ist; darüber, wo wir dereinst landen werden oder anzukommen hoffen oder im Gegenteil fürchten, eben gerade nicht anzukommen – und dabei fast völlig aus den Augen zu verlieren, welches Wunder, welche Pracht es ist, überhaupt am Leben zu sein.
Wir konstruieren im Kopf Identitäten, „Zu-erledigen“-Listen und Zukunftspläne und verlieren uns dann in diesen Konstrukten, in unseren Realitätsmodellen und in unseren Gedanken, die, sogar wenn sie zutreffend sind, nur teilweise zutreffen, definitiv nicht hundertprozentig – und im Normalfall reicht das eben nie. An diesem Punkt angelangt, sind wir wahrscheinlich schon viel zu beschäftigt, viel zu sehr schon in die Eigendynamik dieser Geschäftigkeit verstrickt, um noch daran zu denken, dass wir auch wach sein könnten. Wir schalten so schnell in den Autopiloten-Modus – rutschen in die vertrauten ausgetretenen Pfade unseres Denkens und unserer Emotionen, verlieren uns darin, Punkt für Punkt auf unserer Liste abhaken zu müssen, und werden immer süchtiger nach den vielen Ablenkungen, die uns Smartphone, Tablet & Co. mit ihrer „grenzenlosen Vernetzung“ liefern –, dass wir aus den Augen verlieren, was direkt vor unserer Nase liegt und was jetzt gebraucht wird, und jetzt, und jetzt.
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