Selbst in Kyoto
– Hör ich den Kuckuck rufen –
Sehn’ ich mich nach Kyoto.
BASHO
*
Sei ein Mensch, hier. Steh am Fluss, beschwöre
die Eulen. Beschwöre Winter, dann Frühling.
Lass jede Jahreszeit, die da sein möchte,
rufen. Ist der Laut verschwunden, warte.
Eine Blase quillt langsam in der Erde hoch
und schließt allmählich Himmel, Sterne, Weltraum ein,
sogar die rasend ausgreifenden Gedanken.
Komm zurück und hör den leisen Ruf wieder.
Plötzlich passt, was du erträumt,
zu jedem Traum, und es entsteht die Welt.
Käme ein anderer Ruf so gäbe es nicht
die Welt, nicht dich, nicht Fluss, nicht Eulenruf
Wie du da stehst, ist wichtig. Wie du
lauschst auf das, was kommt. Wie du atmest.
WILLIAM STAFFORD,
Ein Mensch sein (Being a person)
Landschaften des Hörens
Es ist 6.42 Uhr an einem Morgen Ende Juni. Bei offenem Fenster bade ich im Zwitschern von Vögeln, die ich nicht kenne –Zirpen und Pfeifen, Trillern und Schnalzen, Rufe und Antworten, kurz und lang, manche nach einigen Wiederholungen schnell wiedererkannt, andere nicht so leicht wieder herauszuhören, alle moduliert, in Synkopen, melodiös und chaotisch die Luft erfüllend, die Welt mit Lied über Lied unter Lied füllend, Lied im Lied, Lied nach Lied. In einem großen Chor geht es immer weiter, von Moment zu Moment, immer wieder neu, immer jubilierend, ein Füllhorn von Klängen, das sich überallhin ausgießt.
Gleichzeitig ist auch von einer relativ bedeutenden, ziemlich nahe gelegenen Hauptverkehrsader das deutlich zunehmende Rauschen des Verkehrs zu hören, der von der nordwestlichen Peripherie her zielbewusst in den Körper, ins Herz der Stadt fließt und unter ähnlichem Druck in Gegenrichtung hinaus. Manchmal hört man das Röhren eines mühsam beschleunigenden Sattelschleppers heraus, doch insgesamt verschmelzen das ungeduldige Quietschen von Reifen und das durchdringende Brummen der Motoren zu einem Klangstrom, der ankündigt, dass mit den Vögeln auch die Welt menschlicher Tatkraft und menschlichen Fleißes aus dem Schlaf erwacht ist.
Eine köstliche Klanglandschaft, von Zeit zu Zeit akzentuiert vom Rauschen des riesigen norwegischen Ahorns hinter mir, nah am Haus, und vom Seufzen in den Zweigen der Hemlocktannen vor mir, die gelegentlich von sanften Windstößen gestreichelt werden, wozu die Stimmen der Hundebesitzer kommen, die in diesem Moment, beim Gassigehen auf dem ungepflasterten Fußweg unter den Tannen, ein paar Worte wechseln. Jetzt kommt auch das Heulen einer Sirene dazu, klar und deutlich, kurz, nicht wiederholt, und ab und zu das Plumpsen von etwas Schwerem, das offenbar auf dem Bauernhof unterhalb des Hügels von einem Lastwagen abgeladen wird. Von irgendwo hört man auch das Warnpiepsen eines zurücksetzenden Lasters. Diese Klanglandschaft ist immer präsent. Sie ist immer gleich und doch immer anders, während die Minuten und Stunden verstreichen. Und immer, in jedem Moment, ist da der Gesang – und das gelegentliche Schreien – der Vögel.
Ich höre auf, über die Quelle der Geräusche nachzudenken, und gebe mich dem Hören hin. Es ist fast ein Baden im Klang, ein sinnliches Schwelgen in reinem Klang und den Zwischenräumen dazwischen, in diesen vielen Klangschichten. Nun sind sie einfach, was sie sind, werden nicht mehr identifiziert, nicht mehr auf eine angestrengte, bemühte Weise aufgenommen. Ich sitze einfach hier, Moment um Moment, empfange, was in der Klanglandschaft aufsteigt, es nicht einmal mehr ausdrücklich willkommen heißend, da es sowieso zu mir kommt (auch wenn es vielleicht gar nicht richtig gehört wird, weil der Geist woanders ist, abgelenkt von irgendetwas, das auch immer das Nachdenken über die Quelle der Geräusche sein kann, die ich höre, oder das Bewerten, welches ich lieber mag und welches nicht so, eben eine Meinung darüber statt des schlichten Hörens).
In dieser Hingabe an das reine, schlichte Hören gibt es in diesen Momenten nur dieses Hören. Die Geräuschlandschaft ist alles. Sie ist nicht mehr in der Welt, sie ist die Welt. Oder, genauer gesagt, es gibt keine Welt mehr. Es gibt kein „Ich“ mehr, das lauscht, und keine Geräusche „da draußen“. Es gibt keine Vögel, keine Bäume, keine Lastwagen und keine Sirenen mehr. Es gibt nur Klang und den Raum zwischen den Klängen. Es gibt nur das Hören in diesem ganz plötzlich zeitlosen Augenblick des Jetzt, auch während er fließend in den nächsten zeitlosen Augenblick des Jetzt übergeht. Und im Hören ist auch das unmittelbare Wissen um den Klang, wie er in seinem Entstehen, seinem kürzeren oder längeren Bestehen und in seinem Vergehen gehört wird. Es ist nicht die Art von Wissen, die auf Denken beruht, sondern ein tieferes Wissen, ein eher intuitives Wissen, ein Wissen, das irgendwie den Wörtern und Begriffen vorgelagert ist, die unser Wissen umkleiden: etwas, was hinter dem Denken liegt, fundamentaler ist … das gemeinsame Entstehen des Klanges mit dem Wissen um den Klang als Klang, als einfach nur das, was ist, bevor es vom denkenden Geist ausgeschmückt und vom Benennen bewertet wird, von unserem Mögen und Nichtmögen der Dinge, von unserem urteilenden Geist. Dies Wissen ist eine Art Spiegel für den Klang, der einfach reflektiert, was davor auftaucht, ohne Meinung oder Einstellung, offen, leer und deshalb fähig, alles aufzunehmen, was sich zeigt.
In diesem Moment ist das Eintauchen so vollständig, dass es kein Eintauchen mehr gibt. Klang ist überall, das Wissen ist überall, innerhalb der Hülle des Körpers und außerhalb, denn es gibt hier keinerlei Grenzen mehr. Da ist nur Klang, nur Hören, nur stilles Wissen innerhalb einer unendlichen Geräuschlandschaft, nur das, einfach nur das …
Das soll nicht heißen, dass keine Gedanken auftauchen. Sie tauchen auf. Es heißt vielmehr, dass das Vorhandensein von Gedanken nicht mehr auf das Hören abfärbt oder ihm in die Quere kommt. Es ist beinahe so, als seien die Gedanken selbst zu Klängen geworden und würden zusammen mit allem anderen in ihrem Entstehen und Vergehen gehört. Sie sind nicht mehr ablenkend oder störend, denn da sie erkannt werden, neigen sie dazu, zu zerschmelzen, statt endlos weiterzuwuchern. Das Wissen ist wie der Himmel, wie die Luft. Wie der Raum ist es überall, grenzenlos. Es ist nichts anderes als Gewahrsein selbst. Rein. Schlicht und einfach. Es ist auch absolut rätselhaft, denn es ist nicht etwas, was ich erzeuge, sondern eher so etwas wie eine Qualität des Lebendig-Seins, die manchmal ans Licht kommt wie ein scheues Tier, das aus dem Wald auf eine Lichtung tritt, um sich auf einem Baumstamm zu sonnen. Es verweilt, wenn ich still bin und in meinem geistigen Raum keine abrupten Bewegungen mache.
Das Zifferblatt zeigt jetzt 8: 33 Uhr. In diesen Stunden ist eine unendliche Zahl von Momenten vorbeigezogen – und doch ist keine Zeit vergangen. Ich fühle mich gesalbt, gesegnet von diesem Bade, von diesem Eintauchen in eine Geräuschlandschaft, die keinen Anfang und kein Ende kennt, von diesem Wunder des Hörens, das Wachheit ist, das Wissen ist. Ich frage mich, ob es überhaupt Momente gibt, in denen mir dieses „einfach das“ nicht zur Verfügung stünde. Was brauchen wir, damit wir hören, was immer schon da ist, akzentuiert und getragen von einer großen, fundamentalen Stille?
Im Laufe des Tages merke ich: Wenn ich achtlos bin, also nicht im Gewahr-Sein geerdet, während der Tag sich entfaltet, kann es sein, dass ich, ehe ich mich’s versehe, stundenlang nichts mehr höre außer dem Dröhnen des Gedankenstroms in meinem Kopf – egal, was an mein Ohr dringt.
Читать дальше