Unser „Ansehen“ ist also für sich selbst etwas, was Aufmerksamkeit verdient, dessen wir gewahr sein und dessen Konsequenzen wir sehen, fühlen und kennen sollten. Denn nicht nur das Sehen ist wichtig, auch das Gegenteil, das Gesehen-Werden (dies zeigt sich in der Doppeldeutigkeit des deutschen Wortes „Ansehen“). Und wenn das für jeden von uns gilt, dann gilt es für alle.
Sehen und Gesehen-Werden bilden einen geheimnisvollen Kreislauf der Gegenseitigkeit, eine Gegenseitigkeit der Präsenz, die Thich Nhat Hanh „Intersein“ (engl.: „interbeing“) nennt. Diese Präsenz trägt, ermutigt und gibt uns die Gewissheit, dass der Drang, zu sein, wie wir wirklich sind, und uns in unserer ganzen Fülle zu zeigen, ein gesunder Impuls ist. Denn das, was wir wirklich sind, wird gesehen, erkannt und akzeptiert, und wir werden in der Wesensautonomie, die unseren Kern ausmacht, angenommen.
All das ist Teil der Wechselseitigkeit des Sehens, wenn es echtes Sehen ist. Wenn die Schleier unserer Ideen und Meinungen dünn genug sind, dass wir die Dinge sehen und erkennen können, wie sie sind, statt in Wunschvorstellungen über sie festzustecken, dann wird unser Blick wohltuend, still, friedvoll und heilsam. Und er wird von anderen sofort so empfunden. Er wird gefühlt, er wird erkannt – und er fühlt sich sehr gut an.
Nicht nur Kinder und andere Menschen spüren, wenn sie angeschaut werden, und können die Qualität und Absicht dieses Blickes augenblicklich spüren. Auch Tiere wissen darum und fühlen, wie wir sie sehen, mit welchen Eigenschaften des Herzens und Geistes, ob ängstlich oder voller Freude. Und Frauen kennen natürlich immer schon die bedrohliche, sie entpersönlichende und zu einem Objekt machende, raubtierhafte Aggressivität im Blick mancher Männer, die keinerlei Fürsorge empfinden und sich nicht um die Autonomie anderer scheren.
Manche Naturvölker glauben, dass die Welt unseren Blick spürt und uns ihrerseits ansieht, sogar die Bäume und Büsche, sogar die Steine. Und wenn Sie jemals eine Nacht allein im Regenwald (oder in irgendeinem Wald) verbracht haben, dann werden Sie wissen, dass die Qualität Ihres Sehens und Ihres Seins von Abrams „mehr-als-menschlicher Welt“ gesehen und erkannt werden. Sie werden spüren, dass Sie definitiv so gesehen und erkannt werden, wie Sie wirklich sind, auch wenn es vielleicht nicht das ist, was Sie normalerweise zu sein meinen. Und dass Sie, ob Ihnen das angenehm ist oder nicht, ein eng verwobener Bestandteil dieser einen belebten und empfindenden Welt sind.
*
Nur der Garten war immer wunderbar.
Schon seit langer Zeit hatte sich niemand mehr um ihn gekümmert, und er war wieder völlig verwildert.
Seine Schönheit lag in einer Subtilität, die nur genaues Hinsehen wahrzunehmen vermochte.
GIOIA TIMPANELLI,
Sometimes the Soul
Da waren sie, würdevoll, unsichtbar,
In einer Bewegung ohne Drängen, über den toten Blättern,
In der Herbstwärme, durch die flimmernde Luft,
Und der Vogel rief antwortend auf
Die ungehörte Musik verborgen im Unterholz,
Und der ungesehene Augenstrahl kreuzte sich, denn die Rosen
Boten den Anblick von Blumen, die angeschaut werden.
T. S. ELIOT,
Burnt Norton (FOUR QUARTETS)
Hören
Der alte Weiher.
Ein Frosch springt rein –
Platsch.
BASHO
(1644-1694)
Schwerer Spätherbst-Regen trommelt in der Dunkelheit auf das Dach über meinem Kopf. Pausenlos, jeden Moment. Kann ich es hören … jenseits meiner Gedanken über den Regen, nur für einen Augenblick? Kann ich dieses Geräusch „empfangen“, wie es ist, ohne jeglichen Begriff, auch ohne den Begriff „Geräusch“? Ich merke, dass ich mich für das Hören nicht anstrengen muss. Ich muss gar nichts tun. Im Gegenteil: „Ich“ muss, um wirklich hören zu können, zur Seite treten. Mein „Ich“ ist etwas Zusätzliches. Ein „Ich“, das hört, das auf der Suche nach dem Geräusch ist, das lauscht, ist gar nicht notwendig. Mehr noch: Ich merke, dass genau das der Ort ist, aus dem alles Denken hervorsprudelt, aus Erwartungen, aus Ideen über mein Erleben.
Ich experimentiere: Kann ich das Geräusch einfach kommen und auf das „Ohr-Bewusstsein“ treffen lassen, das in der bloßen Erfahrung des Hörens entsteht, wie es in jedem Moment ja bereits geschieht? Ist es möglich, dass ich mir nicht selbst im Weg stehe, sondern einfach nur das Hören da sein lasse, dass ich die Geräusche an mein Ohr dringen lasse, sie im Ohr, in der Luft, im Augenblick sein lasse, ohne irgendetwas hinzuzufügen, ohne überhaupt etwas zu versuchen?
Einfach nur hören, was es zu hören gibt: wo die Geräusche ja sowieso schon ans Tor meiner Ohren pochen. In der Stille offener Aufmerksamkeit beim Hören sein. Tropf, tropf, tropf, glucker, glucker, glucker, plätscher, plätscher, plätscher … die Luft ist voller Geräusche. Der Körper gebadet in Klang. In der tiefen Stille ist da nur der Regen auf dem Dach, der manchmal, vom Wind gepeitscht, in Sturzbächen gegen das Fenster prasselt, reiner Klang in den Ohren, der den Raum erfüllt.
In diesem Augenblick ist da irgendwo, weit im Hintergrund, das Wissen, dass ich hier sitze, dass Regen fällt; doch die Erfahrung „vor dem Denken“, hinter allen Gedanken, die sich absondern, ist die von reinem Klang, von schlichtem Hören, in dem der Hörende vom Gehörten nicht mehr getrennt ist. Da ist nur Hören, Hören, Hören … und im Hören das Wissen um Klang jenseits von Begriffen wie „Regen“, jenseits von Konzepten wie „Ich“ oder „Hören“. Das Wissen verweilt im Hören. Für diesen Moment sind sie eins.
Heute Morgen ist der Regen so mächtig, so unwiderstehlich, so fesselnd, dass die Aufmerksamkeit sich mühelos aufrechterhält. Diese Geräusche zu erleben, hat für den Moment den denkenden Geist übertrumpft. Das ist nicht immer so und ist nicht einmal die Regel. Es ist so leicht, ins Denken zu verfallen. Ich lasse mich so leicht ablenken, mich so weit wegtragen von den Ohren, dass ich den Regen gar nicht mehr höre, ganz gleich, wie heftig er ist und obwohl der Körper und die Ohren immer noch genauso in seinem Geräusch gebadet sind wie zuvor, als es „nur dies“ gab …
Das also ist eine elementare Herausforderung der Achtsamkeit: Im bewussten Hören zu verweilen, nur das zu hören, was da ist, von Moment zu Moment zu Moment. Klänge tauchen auf und verschwinden, Stille in und hinter den Klängen, jenseits einer Interpretation des augenblicklichen Erlebens als angenehm oder unangenehm oder neutral, jenseits aller Merkmale und Urteile, jenseits aller Gedanken über irgendetwas, nur einfach hingegeben an das Sitzen, Hören, Atmen, Wissen …
Im Hören gibt es eine momentane Freiheit von jedem hörenden „Ich“ und vom Gehörten, von einem Wissenden und dem, was gewusst wird. Nichts fehlt. Ein Augenblick ursprünglichen Geistes, leer, wissend, unendlich. Für einen kurzen Augenblick vielleicht sind wir bei unseren Sinnen angekommen, sind wir zur „Be-sinn-ung“ gekommen. Können wir hier für eine Weile bleiben? Können wir hier leben? Was würden wir verlieren? Was gäbe es zu gewinnen? Wiederzufinden? Wann sind uns Klänge und der Raum zwischen den Klängen nicht präsent? Wann ist etwas, was wir sehen, nicht präsent? Sind wir für sie da? Können wir bei ihnen sein? Können wir das Wissen sein, in dem Wissen verweilen, aus dem Wissen heraus handeln, gänzlich präsent sein für das, was bereits da ist? Wie ist die Gefühlstönung eines solchen Augenblicks?
Es zu „versuchen“ ist nicht die Antwort. Wir müssen nicht „versuchen“ zu hören. Aber der Geist macht gern Umwege. Können wir es wissen? Können wir es wissen?
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