Was ist die „Neue Arbeit“? Dieses Buch ist eine lange und komplexe Antwort auf diese Frage. Zur Einführung hier eine kurze Antwort: Zentral für die Neue Arbeit ist eine Umkehrung. Das lässt sich am einfachsten mit den Begriffen von Zweck und Mitteln ausdrücken. In der Vergangenheit war die zu erledigende Aufgabe in vielen Fällen das Ziel oder der Zweck. Der Mensch wurde von anderen, aber auch von sich selbst als Werkzeug benutzt, als Mittel zur Verwirklichung dieses Zwecks. Wir, die menschlichen Wesen, unterwarfen uns diesem. Wir stellten uns selbst in den Dienst der Arbeit, die getan werden musste.
Die Neue Arbeit ist eine nun schon mehr als 20 Jahre andauernde Bemühung, diesen Zustand umzukehren . Nicht wir sollten der Arbeit dienen, sondern die Arbeit sollte uns dienen. Die Arbeit, die wir leisten, sollte nicht all unsere Kräfte aufzehren und uns erschöpfen. Sie sollte uns stattdessen mehr Kraft und Energie verleihen, sie sollte uns bei unserer Entwicklung unterstützen, lebendigere, vollständigere, stärkere Menschen zu werden.
„Umkehrung“ ist im Grunde noch ein viel zu milder, zu blasser, zu farbloser Ausdruck. Wenn wir uns ansehen, wie die Arbeit in einem Bergwerk, an einem Fließband, in einer Küche, auf einem Bauernhof oder in einer Autowerkstatt aussieht, dann stellt sich die Frage, was die Arbeit in der Vergangenheit mit dem Menschen gemacht hat. Sie hat die Menschen verunstaltet, und zwar jede Art von Arbeit auf eine ihr entsprechende Weise: Die Arbeit führte zum Bergmann mit Staublunge, zum aus schierer Überarbeitung abgestumpften Bauern, zum in seiner gespielten Jovialität festgefahrenen Vertreter, zum Priester in einer Soutane aus Scheinheiligkeit – lassen Sie ruhig noch weitere Beispiele vor Ihrem geistigen Auge Revue passieren.
Sieht man sich an, welch enormen Raum die Arbeit im gesamten Leben eines Menschen einnimmt, dann wird deutlich, dass die Belastung und der Druck, unter dem die meisten Menschen unablässig standen, sie auf ähnliche Weise eingeengt haben wie die Bandagen, mit denen im alten China die Füße der Chinesinnen verkrüppelt wurden. Man umwickelte die Füße bereits in jungen Jahren mit angefeuchteten Stoffstreifen, die sich noch weiter zusammenzogen, wenn sie trockneten, weil „kleine“ Füße als besonders attraktiv galten. Über lange Jahre derart „stranguliert“, blieben die Füße so klein wie die Fäuste eines Babys. Diese eingeschnürten Füße sind für mich ein Symbol für das, was die Arbeit mit der Masse der Menschen gemacht hat: Sie hat sie verkrüppelt.
Im Herzen der Neuen Arbeit steht also der Gedanke, diesen Zustand nicht nur abzuschaffen, sondern den Prozeß umzukehren . Die Neue Arbeit ist nicht nur ein Versuch, den Menschen diese Bürde abzunehmen, indem man die Arbeit leichter macht und ihnen mehr Freizeit einräumt. Unsere Absicht ist eine ganz andere. In 20 Jahren sehr vielseitiger Erfahrungen mit dem Phänomen Arbeit haben wir gesehen, dass eine Arbeit, die guten Gebrauch von den Veranlagungen und Talenten der Menschen macht, eine Arbeit, die ihren tiefsten Wünschen entspricht und an die sie glauben, die sie als Herausforderung und Berufung empfinden, die Menschen nicht auslaugt, sondern das genaue Gegenteil tut: Sie gibt den Menschen mehr Energie, stärkt sie und hebt sie auf eine höhere Ebene. Statt sie zum verkrüppelten Fuß einer Chinesin zu machen, ist sie ihnen eine Hilfe auf dem aufsteigenden Pfad der Entwicklung zu einem kräftigen, lebensfrohen menschlichen Wesen. Das Ziel der Neuen Arbeit besteht nicht darin, die Menschen von der Arbeit zu befreien, sondern die Arbeit so zu transformieren, damit sie freie, selbstbestimmte, menschliche Wesen hervorbringt.
Mehr Vitalität und mehr Spannkraft sind in unserer gegenwärtigen Kultur sehr gefragt. Wir führen deshalb oft einschlägige Vergleiche an, manche mit einem Augenzwinkern. Wir behaupten, dass die Neue Arbeit den Menschen mehr Kraft gibt als Ginseng, Vitamin E, das Wachstumshormon STH oder irgendein anderes der Nahrungsergänzungsmittel, die Sie vielleicht schon ausprobiert haben. Eine Arbeit zu tun, deren Sie sich nicht schämen, sondern die Sie interessant und aufregend finden, macht Sie selbstbewusster als Dang Quo, Taiji oder Seminare in Selbstverteidigung. Einer unserer oft verwendeten Sprüche sagt, dass Sex schon sehr gut sein muss, wenn es dem Vergleich mit dieser Art von Arbeit standhalten will. (Fragen Sie einmal jemanden, der die Situation kennt, allein im Bett auf einen Menschen zu warten, der gerade mit einer Arbeit beschäftigt ist, die er leidenschaftlich gern tut!)
Wir glauben, dass jeder dieser Vergleiche ganz buchstäblich wahr ist. Das können Sie selbst testen, beobachten und sehen. Doch gibt es in unserer Kultur eine tief verwurzelte Tradition, die uns daran hindert, Arbeit als etwas Köstliches und sogar Wunderbares anzusehen. In der Tat erfahren viele Menschen ihre Arbeit als eine Art milde Krankheit. Sie ist nicht so schlimm wie Krebs oder Hepatitis, eher so wie eine Erkältung. Diese Analogie ist tatsächlich sehr treffend: Über eine Erkältung sagt man, dass sie in zwei Tagen vorübergeht. Im Falle der Arbeit sagen wir: Es ist schon Mittwoch; bis Freitag halten wir das schon noch aus.
Weil es diese Tradition gibt und diese Art zu denken und zu reden so vorherrschend und tief eingeprägt ist, tun wir, das heißt die „Associates“ der Neuen Arbeit, alles nur Mögliche, um immer wieder die Polarität der Arbeit zu betonen. (Wir gebrauchen den Ausdruck Associates, weil wir die Bezeichnung Mitarbeiter, Partner oder gar Mitglieder für unpassend halten. Associates sind alle die, die in dem weit verbreiteten Netzwerk der Neuen Arbeit an ihrer weiteren Entwicklung beteiligt sind.)
Die Polarität der Arbeit
Mit diesem Begriff meinen wir zum einen, dass sehr viel Arbeit alles andere ist als eine nur milde Krankheit. Wie gesagt ist Arbeit oft eine den Menschen verkrüppelnde Krankheit. Und natürlich kann sie Menschen auch umbringen – ich denke dabei nicht nur an die berüchtigten Unfälle in Kohlenbergwerken oder auf See, sondern auch an die vielen Soldaten und Offiziere, die in den verschiedensten Armeen auf der Welt ihre Arbeit machen. Sie werden dafür eingestellt und bezahlt, und wenn man jene, die bei dieser Arbeit getötet werden, hinzuzählt, dann wäre die Zahl der Todesopfer, welche die Arbeit verursacht hat, nicht länger überschaubar.
Diese Tatsachen werden meist verschwiegen, weil man uns beigebracht hat, dass Arbeit immer ehrenwert ist, dass Faulheit eine Sünde ist und dass Menschen, die sich weigern zu arbeiten, verachtenswert sind. Und das, weil selbst die einfachste und niedrigste Arbeit auf magische Weise gut und ehrenwert wird, wenn man sie nur mit genügend Disziplin und Sorgfalt ausübt. Was für eine unglaubliche, zauberhafte Verwandlung ! Sie geht weit hinaus über die Träume der Alchemisten, die ja nur aus Blei Gold machen wollten. Für jeden Chef und Vorgesetzten ist dies natürlich der beste Mythos, den er sich wünschen kann! Was könnte jemand, der Sklaven beaufsichtigt, die Eisenerz schleppen, weben oder Baumwolle pflücken, sich Besseres erträumen? Und die Ausgebeuteten und Schuftenden glauben ihre ehrenvolle Pflicht zu erfüllen.
Für die Neue Arbeit ist der andere Pol jedoch noch wichtiger. Wir haben bereits gesagt, dass Arbeit, welche die Menschen fasziniert und mitreißt, Arbeit, die sie lieben und der sie sich hingeben können, mehr Kräfte in den Menschen entfesselt, als sie zu besitzen glaubten. Diese Tatsache ist für die Neue Arbeit von solch großer Bedeutung, dass wir gern einige besonders eindrucksvolle Beispiele anführen. Sie sind für uns so etwas wie Leuchttürme, die uns den Kurs halten helfen, wenn wir Gefahr laufen, uns zu verirren.
Das erste Beispiel ist eine Begebenheit, die oft in Psychologielehrbüchern erwähnt wird. Eine Frau kommt aus einem Geschäft. Sie schaut hinüber zum Parkplatz, wo sie ihr Auto geparkt hat, einen altmodischen VW „Käfer“. Auf den ersten Blick erfasst sie zu ihrem Entsetzen, dass ihr fünfjähriger Sohn unter dem Auto liegt, das aus irgendeinem Grund nach vorn gerollt sein muss und ihr Kind überfahren hat. Das liegt jetzt unter einem Rad, mit der enormen Last des Wagens auf seiner Brust. Ohne einen Augenblick zu zögern, läuft sie hinüber, greift auf einer Seite mit beiden Händen unter das Auto, hebt es an und rettet so ihren Sohn. Der Bericht über diese Begebenheit betont auch, dass sie sich dabei weder das Kreuz verhoben noch sonst irgendwie verletzt hat.
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