TRAUMASENSITIVE ACHTSAMKEIT
Aus dieser Fragestellung heraus habe ich ein Rahmenwerk aus Prinzipien und Modifikationen entwickelt, die dazu dienen, traumasensitive Achtsamkeit zu unterstützen. Als eine Art „Best-Practices“-Ansatz zu dem Thema ist traumasensitive Achtsamkeit eine Stimme in einem eben beginnenden Diskurs darüber, wie eine trauma-bewusste Herangehensweise an Achtsamkeit und Meditation aussehen könnte. 10Traumasensitive Achtsamkeit bietet praktische Vorschläge im Kontext der Achtsamkeitslehre und richtet sich besonders an Achtsamkeitslehrer, Traumaexperten und an jeden, der daran interessiert ist, mehr zu diesem Thema zu erfahren.
Meine Definition von traumasensitiver Praxis stammt vom U.S. National Center for Trauma-Informed Care (2016):
Ein Programm, Organisation oder System, das trauma-kundig ist, nimmt die weitreichenden Auswirkungen von Trauma wahr und kennt potenzielle Wege, um sich von einem Trauma zu erholen; es erkennt Zeichen und Symptome von Trauma bei Klienten, Familien, Personal und anderen im System Involvierten; es reagiert, indem es Wissen über Trauma vollständig in seine Grundsätze, Prozeduren und Praktiken integriert; und es strebt aktiv danach, Retraumatisierung zu vermeiden.
Diese Definition ist eine praktische, auf gesundem Menschenverstand basierende Herangehensweise an traumasensitive Praxis und dient diesem Buch als Wegweiser. Durch die Einsicht, wie weitverbreitet Trauma ist, möchte ich Sie in die Lage versetzen, traumatische Symptome zu erkennen und eine Retraumtisierung Ihrer Klienten während Ihrer Achtsamkeitsarbeit zu vermeiden. Jedes Kapitel und jede Modifikation bezieht sich auf einen Teil dieser Definition: das Wahrnehmen von Trauma, das Erkennen der Symptome, das Reagieren darauf oder das Vermeiden einer Retraumatisierung.
Das Rahmenwerk, das ich Ihnen präsentieren werde, beinhaltet fünf Kernprinzipien, die zur Unterstützung von traumasensitiver Praxis konzipiert wurden. Diese fünf Prinzipien sind nicht als vorgeschriebener Ansatz zur Traumheilung gedacht – dafür ist Trauma viel zu komplex. Vielmehr biete ich Anregungen anstelle von Arbeitsschritten, die Sie dazu befähigen sollen, die für Ihre achtsamkeitsbasierte Arbeit relevanten Informationen einzubauen. Ich glaube fest daran, dass es in unserer Verantwortung liegt, Achtsamkeit dahingehend zu adaptieren, dass sie sich den spezifischen Bedürfnissen des Traumaüberlebenden anpasst und wir nicht davon ausgehen sollten, dass diese Menschen sich uns anzupassen haben.
Wie bin ich zu diesen Prinzipien gekommen? Ich begann mit der Suche nach Trauma-Schlüsselkonzepten, die mit Achtsamkeit in Verbindung standen. Dann habe ich jedes Konzept dazu genutzt, um mir Achtsamkeit wie durch eine Linse anzusehen– ein Prozess, der sowohl die Risiken als auch den Nutzen von Achtsamkeit in Bezug auf Trauma offenbarte. Beispielsweise glauben viele Traumaspezialisten, dass Körperarbeit entscheidend für die Heilung ist. Aus diesem Blickwinkel heraus kann Achtsamkeitsmeditation unterstützend wirken, weil sie das eigene Bewusstsein für den Körper erhöht, indem sie sich physischen Sinneswahrnehmungen widmet. Allerdings kann Achtsamkeit, ohne die richtige Anleitung, eine rein geistige und dissoziative Praktik sein, die Menschen dazu bringt, Empfindungen zu umgehen, die um Aufmerksamkeit wetteifern. Daher stellt sich die Frage: Was sind unter diesen Umständen die besten Wege für Menschen, die Trauma erleben, körperorientierte Achtsamkeit zu praktizieren? Bei meiner Arbeit bin ich daher durch drei primäre Ziele geleitet worden:
1 Das Leid für Menschen,
die Achtsamkeit praktizieren, minimieren
Diejenigen von uns, die Achtsamkeit lehren oder in ihrer Arbeit anwenden, tragen die Verantwortung, sicherzustellen, dass die Menschen, mit denen sie arbeiten, bei der Achtsamkeitsmeditation so sicher und stabil wie möglich sind. Das Ziel jedweder Traumaarbeit, schrieb Babette Rothschild, muss es sein, „das Leid zu mindern und nicht zu intensivieren“. (2010, S. xi) Dies kann in Anbetracht dessen, dass Achtsamkeitsmeditation oft Stillsitzen mit geschlossenen Augen beinhaltet, eine erstaunlich schwierige Aufgabe sein. Woher können wir also wissen, ob jemand auf die von uns angebotenen Meditationsanleitungen traumatisch reagiert?
Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Frage. Jede Person und jede Situation ist einzigartig. Jedoch können wir als Lehrer und Experten für seelische Gesundheit unser Bestes tun, um uns stetig fortzubilden. Wir können lernen, wie man Trauma erkennt und wie man effektiv darauf reagiert; wir können unsere Klienten an Menschen überweisen, die auf die Arbeit mit Trauma spezialisiert sind, und wir können unsere Achtsamkeitsarbeit an die Bedürfnisse traumatisierter Klienten anpassen – all dies kann einer Retraumatisierung vorbeugen. Mein Ziel ist es, Ihnen praktische, vernünftige Wege anzubieten, die zumindest versuchen, sicherzustellen, dass sich die Menschen in Ihrer Obhut nicht selbst schaden.
2 Ein systemisches Verständnis von Trauma voranbringen
Dieses Ziel wurde durch meine Arbeit mit Generative Somatics geprägt. Ich glaube, dass es mehr bedarf als des bloßen Abwandelns traditioneller therapeutischer Techniken, um ein traumasensitiver Achtsamkeitspraktiker zu werden. Wir müssen erkennen, was Trauma mit der Welt um uns herum zu tun hat. Wenn wir uns ausschließlich auf einzelne Teilbereiche von Trauma konzentrieren, gehen wir das Risiko ein, dass unsere Aufmerksamkeit von den unterdrückenden Systemen, die so oft die Wurzel von Traumata bilden, abgelenkt wird. Traumatischer Stress ist eine körperliche und seelische Erfahrung, aber darüber hinaus ist er eben auch eine politische Erfahrung. Dies zu verstehen – unseren eigenen soziologischen Kontext eingeschlossen –, kann Sicherheit und Vertrauen aufbauen und uns dabei helfen, die Menschen, mit denen wir arbeiten, bestmöglich zu unterstützen.
3 Für eine kontinuierliche Partnerschaft zwischen
Achtsamkeitspraktikern und Traumaspezialisten eintreten
Jede dieser beiden Berufsgruppen hat der jeweils anderen unverzichtbare Erfahrung zu bieten. Traumaexperten, die die biologischen, psychologischen und sozialen Dimensionen von Trauma verstehen, können Achtsamkeitspraktikern dabei helfen, mehr über Trauma zu erfahren und somit eine entscheidende Rolle in deren Beratung spielen. Achtsamkeitspraktiker * * Ich gebrauche den Ausdruck „Achtsamkeitspraktiker“, um sowohl Achtsamkeitslehrende zu beschreiben, als auch Menschen, die auf Achtsamkeit basierende Interventionen innerhalb ihrer psychotherapeutischen Arbeit nutzen. Die Bezeichnungen „Klienten“ und „Kursteilnehmer“ benutze ich durchgängig im Buch, um jene Menschen zu beschreiben, die Achtsamkeit unter der Anleitung von Lehrern/Therapeuten/Heilpraktikern üben.
wiederum verfügen über ein umfassendes Verständnis dafür, wie man geschickt mit dem Geist arbeitet, problematische Geisteszustände eingeschlossen. Während die Beziehung zwischen Achtsamkeit und Psychologie längst etabliert ist, bietet die aufkeimende Beziehung von Achtsamkeitspraktikern und Traumaexperten ein großes Potenzial für gemeinsames Vorankommen.
EINE WEGBESCHREIBUNG
Teil I dieses Buches bringt gewissermaßen Achtsamkeit und traumatischen Stress miteinander ins Gespräch. Ich definiere Trauma und Achtsamkeit, betrachte ihre jeweilige besondere Geschichte und untersuche, wie moderne Neurowissenschaft unser Verständnis von beidem formt. In Teil II behandle ich die fünf Prinzipien der traumasensitiven Achtsamkeit, indem ich relevante Theorien und Modifikationen präsentiere, die Sie bei Ihrer Arbeit anwenden können.
Dazu noch einige Vorbemerkungen. Erstens: Manchmal werde ich gefragt, ob es Achtsamkeit ist, die für Traumaüberlebende problematisch ist, oder ob es Achtsamkeitsmeditation ist, welche die Schwierigkeiten verursacht. Wie Sie sehen werden, tendiere ich zu Letzterem. Es ist wichtig, zwischen Achtsamkeit als Geisteszustand und der Art und Weise, wie dieser Zustand erreicht wird, zu unterscheiden. Achtsamkeit an sich verursacht kein Trauma – es ist die Ausübung von Achtsamkeitsmeditation, die ohne ein entsprechendes Traumaverständnis angeboten wird, die traumatische Symptome verstärken und verfestigen kann. Menschen praktizieren Achtsamkeit in unterschiedlichen Kontexten: zu Hause, im Rahmen einer Psychotherapie oder wenn sie an längeren Retreats teilnehmen. Angesichts der beschränkten Zahl empirischer Studien zur Beziehung von Achtsamkeit und Trauma bleibt uns nichts anderes übrig, als unseren gesunden Menschenverstand walten zu lassen. Was für den einen Traumaüberlebenden ein Trigger sein kann – wie zum Beispiel ein Meditationsretreat im Schweigen –, tut dem anderen gut. Wir sollten daher in der Lage sein, für die individuellen und andauernden Bedürfnisse unserer traumaüberlebenden Klienten empfänglich zu bleiben.
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