Aber er tat alles, wenn Tante Madeleine, ja, wenn nur die Cousinen ihn um etwas baten. Er konnte mitten im Schachspiel, das er über alles liebte, aufstehen, wenn Isa ihn um einen Lancier anflehte. „Und wenn ich jemand morden soll, ich tu’s – du brauchst es mir nur zu befehlen!“ sagte er, und sein zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem lustigen Lachen. Und dann tanzte er mit seinem riesigen runden Kopf und den kurzen Beinen – es sah wirklich so aus, als wenn eine Eule hüpfte! Aber seine Augen hinter den Brillengläsern blieben traurig.
Einmal, als Mischka lange nicht gekommen war, ließ Tante Madeleine die Schlitten anspannen, Kuchen und Gebäck einpacken, und alles fuhr nach Brjeschepur, ihn zu überraschen. Die beiden kleinen Zimmer hatten kaum Platz für so viel Besuch: Die Cousinen lagerten sich auf dem Bärenfell vor dem Kamin, Tante Madeleine mußte sich in den Schaukelstuhl setzen, und Mischka selbst hockte sich auf einen Schemel und blies mit dem Blasebalg ins Feuer. Male, seine alte Wirtschafterin, kochte Kaffee.
„Was sollen wir nun tun?“ fragte Mischka und warf noch ein paar Birkenscheite in den Kamin. „In meinem armen Bauernhaus habe ich ja nichts für so viel jungen Damenbesuch!“
„Spielen wir Blindekuh!“ schlug Warinka vor.
„Und wer ist die Kuh?“ fragte Mischka.
„Das bist du natürlich!“ riefen die Cousinen begeistert, und Isa band ihm ein Taschentuch vor die Augen.
Alles kroch auf dem Fußboden herum, schlich auf Zehenspitzen an den Wänden entlang, versteckte sich hinter den Fenstergardinen. Und Mischka tastete mit weit ausgebreiteten Armen hierhin und dorthin. Endlich hatte er Isa gefangen, zog sie auf das Bärenfell und befühlte ihre Haare.
„Das ist Isa“, sagte er, aber ohne daß er es merkte, hatte Laura mit Isa getauscht, und als er nun die Binde von den Augen nahm, stand Laura vor ihm. Und immer wieder mußte er Blindekuh sein. „Aber dein Taschentuch behalte ich als Pfand“, sagte er zum Schluß und steckte es sich ein.
„Komm doch mit, Mischka, komm doch mit!“ baten alle Cousinen, als die Schlitten vorfuhren.
Aber diesmal erfüllte er nicht ihre Bitte.
„Eine schlimme Zeit ist wieder über mich gekommen“, sagte er zu Tante Madeleine, „und da ist es besser, wenn ich allein bin!“
Und zu Boris und Aurel sagte er beim Abschied:
„Ihr könnt mich mal besuchen!“
Wie traurig er dastand in der offenen Tür, die Windlaterne in der Hand, wie traurig er ihnen nachwinkte!
Bald darauf waren Boris und Aurel in ihrer Ragge zu ihm gefahren. Zuerst war es etwas unheimlich gewesen: Mischka saß in seinem Schaukelstuhl, rauchte eine halblange Pfeife und sprach kein Wort. Dann war er aufgestanden, hatte die Pfeife am Kamin ausgeklopft und war unruhig im Zimmer auf und ab gegangen. Plötzlich war er vor den Jungen stehengeblieben, hatte die Hände auf ihre Köpfe gelegt und sie mit leiser, verzweifelter Stimme gefragt:
„Glaubt ihr an Gott?“
Boris nickte stumm.
„Ja“, murmelte Aurel.
„Dann wollen wir zusammen beten!“ sagte Mischka und kniete sich auf das Bärenfell. Die Jungen knieten neben ihn hin. Alle drei falteten die Hände. Und dann sprach Mischka mit flehender, bebender Stimme das Vaterunser. Noch nie hatte Aurel dieses Gebet so gehört. Und die Worte: „Erlöse uns von dem Übel!“ schrie er fast und schlug mit dem Kopf auf den Boden.
Aurel und Boris wußten nicht, was sie tun sollten. Aber dann beruhigte sich Mischka, stand auf und strich über die Haare der Jungen:
„Euer Glaube hat mir geholfen!“
Beim Abschied sagte er noch leise:
„Betet für mich, ich bin sehr krank, und das wird mir helfen!“
Boris und Aurel sprachen mit niemand davon, auch nicht untereinander. Aber jeden Abend beteten sie für den kranken Vetter. Und immer wieder mußte Aurel an ihn denken. Warum war er so unglücklich? Glaubte er nicht an Gott? Quälte ihn etwas? Oder war er wirklich nicht ganz richtig im Kopf und wurde vielleicht wieder verrückt? Es war fast unheimlich zuzusehen, wie er tanzte, wie der große, runde Kopf auf den kurzen Beinen hin und her schwankte, als könnte er jeden Augenblick herunterrollen.
Nach dem Lancier kam die Française, die richtige Française mit den zwölf Touren. Und da niemand genau Bescheid wußte, mußte Tante Leocadie vom Alten Haus heraufkommen und allen vortanzen, wie sie vor dreißig Jahren im Schloß von Schönbrunn getanzt hatte: Sie hob ein wenig den Rock, avancierte, retirierte und knickste tief vor einem Stuhl. Aber heute verstand ja niemand mehr richtig zu tanzen – nicht einmal richtig knicksen konnten die Cousinen. Und auch die Jungen verstanden keine richtigen Bücklinge zu machen.
„Mein Gott, nicht so steif, nicht so plump!“ rief Tante Leocadie verzweifelt. Und dann vollführte sie den Hofknicks, wie sie vor Kaiser Franz Joseph beim Empfang in der Hofburg geknickst hatte: der eine Fuß glitt weit nach hinten zurück, und die ganze zarte Gestalt sank hin auf dem Parkett und zerschmolz in Demut vor dem leeren Stuhl – der war der Kaiser Franz Joseph.
Aber noch schöner und aufregender als alles dies war es, wenn Tante Madeleine plötzlich ausrief: „Kinder, heute müssen wir uns verkleiden!“
„Verkleiden“ war Tante Madeleines große Leidenschaft – vielleicht hatte sie das noch von ihrer Opernzeit her. Eine ganze Kammer war angefüllt mit alten Atlasgewändern, seidenen Röcken, Samtmiedern, Spitzenresten, glitzernden Herrlichkeiten, bunten Flicken, Tarlatan und silbernem Brokat. Immer mußte jemand verkleidet werden – ob er wollte oder nicht.
Als einmal Lims Schwester, ein hochbetagtes Fräulein, aus der Schweiz kam – die Schwestern hatten sich Jahrzehnte nicht gesehen, und nun wollte Tante Madeleine Lim zu ihrem sechzigsten Geburtstag mit dem Besuch der Schwester überraschen – da mußte sich die alte Dame unbedingt als Kakadu verkleiden, in lauter grüne Rüschen, mit aufgeklebten grüngefärbten Hühnerfedern und einem gewaltigen krummen Schnabel. So ausstaffiert mußte das betagte Fräulein lange Zeit mitten im Saal vor Lims Geburtstagstisch auf einer Holzstange hocken.
„Aber warum denn als Kakadu?“ meinte Onkel Nicolas kopfschüttelnd.
„Maché, und warum nicht als Kakadu?“ fragte Tante Madeleine verwundert. „Als Kolibri wäre sie doch etwas zu groß!“
Das war für Lim eine Überraschung und für alle ein unvergeßlicher Anblick, als der grüne Kakadu ihr um den Hals fiel!
Der dicke Baron Igelströhm wurde als Globus ausstaffiert – nur am Rükken mußte Tante Madeleine ihn ein wenig auspolstern. Der lange Onkel Arnold stelzte als Amerikaner umher, mit Sternen am Zylinder und karierten Hosen. Der dürre Herr von Dunten hatte sich in eine alte Jungfer verwandelt, mit Muff und Pelerine – „aber da braucht er sich eigentlich gar nicht zu verkleiden“, meinte Onkel Nicolas, „das angewärmte Nachthemd unterm Arm genügt!“ Aus Herrn Bjelinski war ein Mephisto geworden, in schwarzem Trikot, mit Pferdefuß und unheimlich schwarzem Bart.
Isa war Königin mit einer langen glitzernden Schleppe, die von Boris und Aurel, ihren Pagen, getragen wurde, und die Cousinen waren lauter Prinzessinnen. Nur mit Mischka wußte Tante Madeleine nichts Rechtes anzufangen. Und dann verkleidete er sich selbst als Narr, mit Schellenkappe und roten Tupfen auf dem weißgepuderten Gesicht. Den ganzen Abend saß er unter dem Thronhimmel zu Füßen der Königin, und zuletzt sagte er ein Gedicht auf, das sehr komisch anfing:
„Meines Herzens Königin,
deren armer Narr ich bin …“
das aber dann sehr traurig endete:
„löscht die vielen Kerzen aus;
wozu Licht im Narrenhaus?“
Gleich daraufwar Mischka verschwunden: ohne Abschied war er nach Hause gefahren.
Einmal nach dem Kaffee – die Cousinen waren alle im Pastorat, Boris und Aurel büffelten an der lateinischen Übersetzung –, kam Tante Madeleine aufgeregt ins Schulzimmer gestürzt:
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