Siegfried Böck
DIE BANDE
VOM VORWALD
Ein Elsternabenteuer
aus Brommelshausen
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2016
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Die seltsamen Waldgeschichten
Mal ganz ehrlich. Wer hat schon jemals von einem Ort mit dem wunderlichen Namen Brommelshausen gehört? Ich wette, allzu viele werden es nicht sein. Ich für meinen Teil hatte bis vor Kurzem noch keinen blassen Schimmer von der Existenz dieses Städtchens. Das wäre bestimmt auch bis in alle Ewigkeiten so geblieben, wenn ich nicht von diesen seltsamen Brommelshausener Geschichten gehört hätte und für Geschichten, egal welcher Art, bin ich ja bekanntlich immer zu haben. Für gute Geschichten bin ich sofort bereit, bis in weit abgelegene Provinzen vorzudringen, und wenn es sein muss, sogar bis nach Brommelshausen.
Mit den Brommelshausener Geschichten hatte es allerdings eine ganz besondere Bewandtnis. Zuerst vermutete ich ja, dass diese Geschichten sich mit irgendwelchen komischen oder, wie schon gesagt, seltsamen Ereignissen aus der Brommelshausener Stadt- und Klatschgesellschaft beschäftigen. Dem war aber nicht so, obwohl im schmucken städtischen Rathaus durchaus mal seltsame Beschlüsse gefasst werden können. Es geht in den Geschichten auch nicht um den FC 08-Brommelshausen, der übrigens am vergangenen Sonntag eine herbe 5:0-Klatsche gegen Fortuna Untermoosbach einstecken musste. Bei dem schlechten Tabellenstand des Vereins ist aber auch so eine Niederlage mit fünf Toren Unterschied kein erwähnenswertes, geschweige denn seltsames Vorkommnis.
Nein, in Brommelshausen erzählt man sich ganz andere Geschichten – nämlich Waldgeschichten. Die Brommelshausener nennen sie so, weil alle diese Erzählungen ihre „grüne Bühne“ im Stadtwald von Brommelshausen haben. Nun ist es bei Waldgeschichten naheliegend, dass Tiere darin vorkommen, und genau das trifft hier auch zu. Es sind Tiergeschichten, die vom Alltagsleben und von den Abenteuern der dortigen Waldbewohner erzählen, wobei die Tierakteure mit ausgeprägten menschlichen Eigenschaften ausgestattet sind. Das heißt, sie sprechen, fühlen und handeln wie Menschen. Oft sind die Geschichten lustig, manchmal weniger lustig und ab und zu auch überhaupt nicht lustig, denn sie schildern auch tragische und gefährliche Ereignisse, welche die gefiederten und bepelzten Bewohner erleben müssen. Mancher wundert sich auch mit leichtem Schaudern, was sich im scheinbar so beschaulichen Stadtwald alles so abspielt.
Es sind also Tiergeschichten aus einem Stadtwald. Eigentlich nichts Besonderes, denn Tiergeschichten findet man in jeder Dorfbücherei und es gibt genügend Schreiberlinge, die sogar davon leben, indem sie mehr oder weniger gute Tiergeschichten zu Papier bringen.
Das Seltsame an diesen Waldgeschichten ist aber, dass niemand weiß, wer der Urheber dieser Geschichten ist. Es gibt keinen Schriftsteller, der die Waldgeschichten als sein geistiges Eigentum in Anspruch nehmen will, zumindest hat sich noch keiner von der schreibenden Zunft bei mir gemeldet.
Manch einer könnte nun sogar auf die Idee kommen, dass die Waldgeschichten gar keine Fantasiegeschichten aus einer Schriftstellertastatur sind, sondern wahre Begebenheiten schildern. Zugegeben, eine gewagte Idee, aber ich könnte es mir trotzdem sehr gut vorstellen.
Falls es aber doch einen mysteriösen, unbekannten Schreiberling geben sollte, der diese Geschichten erdacht hat, probier ich jetzt zum allerletzten Mal, diesen Heimlichtuer ausfindig zu machen.
„Haaalloo, ist hier irgendjemand, dem die Waldgeschichten gehören!?“
Ich habe noch einmal zwei Monate gewartet, gesucht und noch einmal gewartet, aber niemand hat sich auf meine Aufrufe gemeldet. So nehme ich an, dass die Waldgeschichten wirklich keinen Besitzer haben und ich sie hier und jetzt erzählen darf.
Fangen wir einfach an.
Brommelshausen, sein Stadtwald und seine Besonderheit
Wie schon angedeutet, gibt es über Brommelshausen nicht sehr vieles zu berichten. Es ist ein abgeschiedenes, verschlafenes Landstädtchen im ebenfalls abgeschiedenen und verschlafenen Grünwaldviertel, irgendwo in der tiefsten Provinz. Es spricht eigentlich nicht sehr viel dafür, einfach mal so seine Koffer zu packen und auf einen Sprung dorthin zu fahren. Ehrlich gesagt, spricht überhaupt nichts dafür.
Natürlich kann es ab und zu mal vorkommen, dass es den einen oder anderen durch einen seltsamen Zufall oder durch eine GPS-Fehlnavigation doch einmal nach Brommelshausen verschlägt. Falls jemandem so etwas passieren sollte, dann – ein Tipp unter Freunden – wäre ein Abstecher in den dortigen Stadtwald nicht der schlechteste Zeitvertreib. Wer jetzt meint, dass es bestimmt nicht sehr aufregend sein kann, in einem Wald neben einer verschlafenen Kleinstadt herumzulaufen, der hat nicht einmal ganz unrecht. An dem Wald selbst ist auf den ersten und auch auf den zweiten Blick nichts, aber auch gar nichts zu bemerken, was einen vom Hocker reißen würde. Es ist ein ganz normaler Wald mit großen, alten Bäumen, lauschigen Waldwiesen, einem Wiesental mit einem kleinen Bach und einer Lichtung mit dem reizenden Namen „Tannengrün“, die genau in der Mitte des Waldes liegt.
Was ist nun das Besondere am Brommelshausener Stadtwald?
Die Bäume, das Wiesental und die Lichtung sind es bestimmt nicht. Es sind auch nicht die großen Tiere des Waldes, obwohl er von beeindruckenden Wildschweinrotten und Rehrudeln bevölkert wird.
Nein, das Besondere an diesem Wald hat Federn, und zwar schwarzweiße Federn und dazu noch einen langen Schwanz, der beim Fliegen aufgeregt auf und ab wippen kann. Diese schwarzweißen Federkleidträger sind eigentlich auch wieder nichts Besonderes, denn sie gehören zu einer überall bekannten Sippe von Gefiederten, von der jedes kleine Kind sagen kann: „Schau mal, Mama, da fliegen aber viele Elstern!“
Jawohl, ganz gewöhnliche Elstern. Die Elstern im Brommelshausener Stadtwald nehmen allerdings eine Art Sonderstellung ein, denn nur ihnen eilt der zweifelhafte Ruf voraus, einen, wie soll man sagen, etwas lockeren Lebenswandel zu führen. Vor allem bei ihren ungeliebten Verwandten, den etwas spießigen Schwarzbefrackten, gelten die verrückten Schwarzweißen als eine Sippschaft, die in der ehrwürdigen Rabenvogelfamilie nichts mehr zu suchen hat. In ihren strengen Krähenaugen ist die schwarzweiße Verwandtschaft einfach nur laut, streitsüchtig, neugierig, boshaft, frech und zu allem Überfluss auch noch diebisch. Wie sollen die Schwarzweißen, die alle so komische Namen wie Emil, Eddy oder Edgar tragen, auch sonst in den Besitz dieser vielen glänzenden und geheimnisvollen Gegenstände gekommen sein, welche die Nischen ihrer Nestburgen bis zum Rand ausfüllen?
„Geklaut haben sie diese wertvollen Sachen!“, so würden es auf jeden Fall die Schwarzbefrackten behaupten.
Übrigens: Im Wald heißen die Elstern nicht Elstern und die Krähen auch nicht Krähen, sondern Schwarzweiße und Schwarzbefrackte. In der Geschichte werden aber, aus verschiedenen Gründen, beide Namen verwendet. Bei anderen Waldbewohnern sind solche mehrfache Namensgebungen ebenfalls üblich.
Ein besonderer Dorn in jedem ehrlichen Krähenauge ist auch die Unart der Schwarzweißen, sich in provozierenden, schwarzen und weißen Federkombinationen zu kleiden. Eine Beleidigung für jede alte Rabentradition.
Kurz gesagt, Elstern und Krähen können sich nicht besonders leiden, aber das soll ja selbst in den besten Verwandtschaften gar nicht so selten vorkommen.
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