Auch Herr Bjelinski wurde nicht verschont. Um ihn an Hühnerfleisch zu gewöhnen, sperrten die Cousinen zwei Gockel in seinen Schrank, die ihn dann am Morgen mit lautem Gekrähe weckten. Als er, noch ganz verschlafen, entsetzt die Schranktür aufriß, schossen die Hähne ihm fast ins Gesicht und flatterten kreischend durchs Zimmer.
Jetzt nahm der Krieg immer größeren Umfang an, denn Herr Bjelinski machte mit den Jungen einen Gegenangriff: Es wurden Flaschen mit getrockneten Erbsen und Wasser gefüllt und mit offenen Hälsen gut versteckt auf Schränken und hinter Kommoden in den Schlafzimmern der Cousinen aufgestellt. Langsam quollen die Erbsen, stiegen durch den Flaschenhals hinauf und kullerten, immer in kleinen Pausen, mit lautem Gepolter auf den Fußboden. Die Rache der Cousinen war noch fürchterlicher: Unter Herrn Bjelinskis Bett wurde eine große Kuhglocke angebunden, die an einer Schnur gezogen werden sollte. Aber Herr Bjelinski entdeckte die Schnur, und in der nächsten Nacht bimmelte die Glocke am Fensterladen der Cousinen.
Bei dieser Gelegenheit kam es sogar zu einem richtigen Handgemenge. Boris und Aurel waren im Nachthemd durch den dunklen Korridor bis vor die Tür der Cousinen geschlichen, um sich das Glockengeläute besser anzuhören. Plötzlich öffnete sich die Tür, etwas Helles schimmerte in der Finsternis, schrie auf, gleich darauf stürzte die weibliche Übermacht auf sie los. Es kam zu einer erbitterten Wasserschlacht im Dunkeln: Von beiden Seiten wurden immer neu gefüllte Gläser herangeschleppt und gegen den Feind gespritzt. Aurel geriet ins Handgemenge. Zwei erhitzte Gesichter stießen keuchend gegeneinander. Aber in diesem Augenblick tauchte am Ende des Korridors Lims erschrockener Pferdekopf hinter einer Petroleumlampe auf – da liefen die kämpfenden Nachthemden auseinander.
Am nächsten Tag hatten Aurels Stirn und Nenas Kinn eine kleine Beule.
Aber auch völlig Unbeteiligte wurden in diesen aufregenden Krieg hineingezogen. So zum Beispiel Tante Sascha und die alte Pastorin Nötkens. Die Cousinen hatten die Teller der beiden Damen mit Siegellack an einem dünnen weißen Faden befestigt, der unter das Tischtuch gezogen und von der anderen Seite gezupft wurde; jedesmal, wenn Tante Sascha einen Bissen vom Kotelett auf die Gabel stecken wollte, hüpfte der Teller davon – fassungslos, mit weit aufgerissenen Augen, starrte sie auf dies Phänomen. Die alte Pastorin hielt ganz rot vor Erregung den hüpfenden Teller mit beiden Händen fest, aber sobald sie nach der Gabel griff, fing das Kotelett wieder an zu tanzen.
Onkel Arnold bekam Zuckerwasser in die Schnapsflasche und Himbeerlimonade ins Rotweinglas. Um sich vom Schreck zu erholen, stürzte er gleich zwei Allaschkümmel hinunter.
„Aber Arnold“, seufzte Tante Sascha.
„Willst du auch einen?“ Höflich füllte er ein drittes Glas, und als sie den Kopf schüttelte, spülte er es selbst in die Gurgel.
Nach dem Essen wurde getanzt: Pas de Quatre, Pas de Patineur, Papillon, Lancier und Française. Tante Madeleine und Pastor Nötkens spielten abwechselnd auf dem Flügel; die Teppiche wurden aufgerollt, die Tische zur Seite geschoben. Aber immer waren zu wenig Herren da, so daß der dicke Baron Igelströhm, der kurzsichtige und ängstliche Herr von Dunten und der lange Onkel Arnold mit dem Ziegenbart und dem „Schwips“ um so eifriger tanzen mußten.
Herr Bjelinski tanzte nie. Er spielte mit Onkel Nicolas oder mit Pastor Nötkens im Petit-Salon Schach, oder er saß irgendwo finster in einer Ecke und zupfte an seinem schwarzen Fransenbart.
„Ich bin doch kein Narr“, sagte er, „so sinnlos in der Runde zu hüpfen!“
„Und das Schachspiel“, fragte Tante Madeleine, „hat das etwa einen Sinn?“
„Das stärkt den Intellekt“, erklärte Herr Bjelinski, „das ist geistige Gymnastik!“
„Und warum soll der Körper nicht auch Gymnastik treiben?“ lächelte Tante Madeleine.
„Das soll er auch“, versetzte Herr Bjelinski, „aber Tanz ist keine Gymnastik. Tanz erregt nur die niedrigsten Sinne und schwächt den Intellekt.“
„Und die Sinne sind eine Erfindung des Teufels?“ lachte Tante Madeleine.
„Ja“, erwiderte Herr Bjelinski ingrimmig. „Die Teufel tanzen! – Aber die Engel singen!“ fügte er mit einem aufleuchtenden Blick hinzu.
„Tolstoi hat auch getanzt und sogar sehr viel getanzt!“ polterte Pastor Nötkens, der die letzten Worte gehört hatte. „Erst als er nicht mehr tanzen konnte …“
„Um Gottes Willen – nur nicht Tolstoi!“ unterbrach ihn Tante Madeleine. „Aber Sie, lieber Pastor, können noch tanzen!“
Dann spielte die Pastorin einen alten Ländler, und Tante Madeleine und Pastor Nötkens drehten sich langsam im Kreise, und alle sahen zu. Der Pastor setzte so feierlich die Füße, er hielt den Kopf mit dem silberweißen Haar ein wenig zur Seite, und sein rosiges, bartloses Gesicht bekam einen kindlich-glücklichen Ausdruck. Und wie tanzte Tante Madeleine!
Aber noch schöner war es, wenn Pastor Nötkens auf dem Flügel eine Mazurka losdonnerte und Onkel Nicolas mit Tante Madeleine ganz allein eine richtige Mazurka vortanzten: Wie Onkel Nicolas mit den Hacken in der Luft klackerte, mit welcher Kraft und Eleganz er über das Parkett hinflog, und wie leicht und zart Tante Madeleine neben ihm herschwebte und dann, wenn er sich ins Knie stürzte, im Kreise um ihn herumwirbelte! Nein, außer Onkel Nicolas konnte heute niemand mehr Mazurka tanzen.
„Ich glaube“, sagte Tante Madeleine zu Herrn von Dunten, der sich verzweifelt mit ihr im Kreise drehte, „Sie sind auch mit den Beinen kurzsichtig!“
Auch Boris und Aurel mußten tanzen. Boris konnte es schon ganz gut, aber Aurel bewegte sich, als hätte er Blei in den Füßen. Die vielen Cousinen, Mademoiselle und Miß Mabel mühten sich abwechselnd mit ihm ab. Am besten ging es noch mit der kleinen Nena. Aber gerade ihre so unwahrscheinlich schmalen Hüften wagte er gar nicht richtig anzufassen, als könnten sie leicht zerbrechen. Er hatte eine große Scheu vor der geringsten Berührung mit dem fremden Körper, und doch fühlte er ein seltsam beglückendes Geprickel, wenn Nena ihren Arm um seinen Nacken, ihre feste kleine Hand auf seine Schulter legte, wenn er ihren leisen, fremdartigen Seifengeruch spürte. Und immer versuchte er es so einzurichten, daß er mit ihr oder mit ihr als vis-à-vis den Lancier tanzte. Und wenn dann bei der dritten Tour der tiefe Knicks kam – das Klavier für ein paar Takte aussetzte –, stockte auch sein Herz, das sich in demütigem Glück fast bis zum Parkettboden vor Nena verneigte.
Aber gerade beim Lancier fehlte immer ein Herr, so daß der lahme Theodor vom Doktorat jedesmal einspringen mußte. Wie eine aufgescheuchte Fledermaus flatterte er dann mit hilflos schlenkernden Armen über das glatte Parkett – „aber Theodor, nicht so schnell!“ – die Cousinen starben fast vor Lachen.
Der kleine, rundliche Doktor Spalwing tanzte nur Polka. Aber die hüpfte er mit solcher Begeisterung, daß sein roter Kopf und sein harter Kragen nachher immer ganz aufgeweicht waren. Manchmal flog dabei auch eins seiner Röllchen zu Boden.
„Polka – das ist ein richtiger Tanz“, erklärte er, indem er sich mit dem Taschentuch das nasse Gesicht abtupfte, „beim Lancier schläft man ein!“ Und dann stopfte er sich das Röllchen wieder unter den Rockärmel.
Wenn aber der lahme Theodor nicht gekommen war, dann mußte Mischka mittanzen. Mischka war ein Vetter, der ein „Gesinde“, einen Bauernhof, bewirtschaftete und dort ganz allein als Sonderling in einem kleinen Hause wohnte. Es hieß, daß er nicht ganz richtig im Kopf sei – einmal war er schon im Irrenhaus gewesen. Aber jetzt ging es ihm wieder besser. Er war klein von Wuchs und hatte einen riesigen Kopf mit großen, traurigen Augen hinter runden Brillengläsern, so daß er wie eine Eule aussah. Auch wenn sein von vielen kleinen Falten zerknittertes Gesicht lachte, blieben die Augen unverändert: die Augen lachten nicht mit.
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