„Ich will nur solange leben, bis der letzte Russe hinter Kamtschatka ersäuft!“
„Aber deine Goldkette wird nicht so lange halten!“ meinte Aurel und zupfte an der Bärenkralle. „Hier ist sie schon ganz durchgerieben!“
„Fünfzig Jahre hält sie noch“, erklärte Onkel Oscha, „und dann kaufe ich mir eine neue!“
„Komm doch mit!“ bestürmten die Kinder den Onkel, als die Kalesche vorfuhr, „komm doch mit!“
Aber Onkel Oscha blieb – da half kein „Mundspitzen“.
Noch lange stand er da vor dem grauen Holzhaus, der weiße Rock und der weiße Bart leuchteten in der Sonne.
In großen Biegungen schlängelte sich der breite, sandige Weg zwischen den vergrasten Gräben durch das wellige Land. Immer war der Geruch von reifem Korn, von Kamillen, von süßem Klee, immer der Lärm von Lerchen, das Knirschen der Räder, der dicke, heiße Staub in der Luft.
„Jetzt kommt das Tantenbassin“, sagte der Vater, „aber ich steige beim alten Igelströhm in Torma aus, Marz bringt euch nach Orrisfer, und morgen nachmittag holt er mich ab. Länger als eine Stunde halte ich es im Tantenbassin nicht aus!“
Mein Gott, wie dick der Igelströhm war – man mußte zum Tee dort bleiben. Noch nie hatte Aurel einen so dicken Menschen gesehen. Wenn er ging, dann schaukelte der Bauch hin und her, und wenn er saß, quoll er weit über den Lehnstuhl. Und die Hände waren so fett und so schwer, daß er sie kaum bewegen konnte. Immer lagen sie irgendwo auf dem Bauch, wie aufgequollene Kröten. Aber der Vater blieb doch lieber hier – wie schrecklich mußte es dann bei den Orrisferschen Tanten sein!
„Tante Josephine, Tante Constance, Tante Luschen – alle drei sind sehr, sehr lieb, aber etwas eigen“, seufzte die Mutter. „Daß ihr nur keine Dummheiten macht!“
Ja, etwas eigen waren diese Tanten schon, und das ganze Haus roch so sonderbar nach Tanten, war voll Tantengeraschel und Tantengeflüster. Immer wisperte es irgendwo, immer galoppierte Emma, das alte Mädchen, mit einem Staublappen hin und her und wischte die Türklinken ab.
„Hast du dir auch schon die Hände gewaschen?“ fragte Tante Constance immer wieder, und immer wieder mußte Aurel sie einseifen. „Draußen sind so viel Bazillen“, erklärte sie streng, während sie mit klirrendem Armband eine Patience legte, „und viele Menschen sind schon an Bazillen gestorben!“
„Was sind Bazillen?“ fragte Aurel.
„Das wirst du später einmal erfahren, wenn du größer bist!“ sagte Tante Constance und tupfte mit dem Finger über die Karten. Immer sagte Tante Constance: „Wenn du größer bist“, und immer legte sie Patience. Geduldig war sie noch nicht geworden.
Tante Josephine saß am Fenster im Lehnstuhl und stickte auf Kanevas schöne bunte Wandsprüche. Über jedem Bett hing ein solcher Spruch. Aurel buchstabierte:
„Hoffnung ist mein Wanderstab
und Geduld mein Reisekleid,
womit ich durch Zeit und Grab
wandre in die Ewigkeit!“
Aurel sah ganz deutlich die Hoffnung: einen dicken Spazierstock mit einem runden Griff. Und die Geduld war ein Staubmantel wie der von Mama, nur viel grauer, weil man ja mit ihm durch das Grab wandern mußte.
Über einem andern Bett las Aurel den Vers:
„Einst stehst du vor dem Hügel,
und ist er noch so klein,
da kommst du nicht hinüber –
da legt man dich hinein!“
Es klang so, als wenn sich Tante Josephine extra darüber freute, daß man über diesen kleinen Hügel nicht hinüber konnte: ätsch – da legt man dich hinein!
Viel angenehmer war dagegen ein Spruch, der im Speisezimmer hing:
„Des Leibes warten und ihn nähren,
das ist, o Schöpfer, meine Pflicht!
Mutwillig meinen Leib zerstören
verbietet mir dein Angesicht!“
Nein, die Tanten zerstörten nicht mutwillig ihren Leib – das konnte man nicht behaupten. Und auch Aurel nahm sich diesen Spruch zu Herzen – besonders, wenn es Pfannkuchen mit Preiselbeeren gab. Ihn störte dabei nur der Gedanke, daß Jesus als Gast neben ihm saß und ihm zuschaute. Denn Tante Josephine betete jedesmal ausdrücklich:
„Komm, Jesus Christ, sei unser Gast
und segne, was du uns bescheret hast!“
Auch sonst standen die Tanten sehr gut mit dem lieben Gott: alles war eine „rechte Gabe Gottes“ – die Sonne, der Regen, das Essen – und immer dachte der liebe Gott an die Tanten.
„Ja, wir dürfen ihn nie vergessen, der uns nicht vergißt“, sagte Tante Josephine, wenn sie die Serviette zusammengerollt hatte, und blickte zur Dekke hinauf.
Aurel hob den Kopf, konnte aber außer ein paar Fliegen, die an der Hängelampe herumkrochen, nichts entdecken.
„Nie vergessen“, fuhr Tante Josephine fort, „was er alles für uns getan hat und immer noch tut!“
Es war fast so, als stände der liebe Gott, wie Emma und die Köchin, im Dienst der Tanten. Nur daß er nicht mit Geld, sondern mit Gebeten bezahlt wurde.
Tante Luschen sagte selten etwas; sie lief immer lautlos hin und her, immer mit einer großen, stillen Freude im rosigen Gesicht.
„Luschen, die Hühner sind wieder im Garten!“ – „Luschen, wieviel Grad werden es heute im Schatten sein?“ – „Luschen, sollte man nicht das Fliegenpapier erneuern?“ „Man“ war immer Tante Luschen, aber sie tat alles so leise, daß man es gar nicht merkte. Und immer hatte sie etwas für die Kinder: Geduldplätzchen, Kranzbeerlimonade oder ein Glas Mandelmilch.
Zum Nachmittagskaffee kam Doktor Amende, ein dürrer, kleiner Herr mit einer großen roten Nase.
„Nun, was gibt’s Neues, Doktorchen, was gibt’s Neues?“ bestürmten ihn Tante Josephine und Tante Constance.
Und dann berichtete der Doktor, zwischen einem Schluck Kaffee und einem Stück Kuchen: von einem Erdbeben irgendwo in Japan, von einer Überschwemmung oder von irgendeinem Eisenbahnunglück.
„Mein Gott“, stöhnte Tante Josephine, und die Grübchen in ihren Wangen zuckten vor Erregung, indem sie nach der Schmantkanne griff: „Was heute für schreckliche Dinge passieren; das kommt davon, weil die Welt so gottlos geworden ist! Und ist es wirklich wahr, daß der Tormasche schon wieder heiraten will?“
Dann wurde Aurel fortgeschickt.
Als aber der Vater kam, war Aurel dabei, wie die Tanten ihn ausfragten: wer sie sei, von wo und wie alt.
„Gott sei Dank, wenigstens eine Geborene“, seufzte Tante Constance, „und keine Gewisse!“
„Aber schon die dritte!“ Tante Josephine schüttelte mißbilligend den Kopf. „Und die zweite ist erst vor einem Jahr gestorben!“
„Der Tormasche kann nicht mehr lange warten“, meinte der Vater lachend, „und wißt ihr, was er mir sagte?“
Tante Josephine beugte sich vor, ihre Augen blitzten vor Neugierde, ihre Grübchen bebten: „Nun?“
Der Vater trank die Tasse leer und setzte sie auf den Teller. Dann sagte er laut und mit Nachdruck:
„Der Tormasche ist der Ansicht: wenn Gott nimmt – dann nehme ich auch!“
Der Vater lachte dröhnend.
Tante Josephine saß wie erstarrt da. Tante Constance verschüttete fast den Kaffee. Dann sagte der Vater:
„Aber ich glaube, es ist Zeit! Aurel, laß Marz vorfahren!“
Die Kalesche schaukelte, von den Heuschlägen wehte es feucht und kühl. Weiße Nebel hingen über dem moorigen Fluß, der sich zwischen Ellerngestrüpp durch die Wiesen schlängelte. Gelb und rund watete der Mond über den schwarzen Morast.
Dann kamen die Laiskumschen Wälder, die endlose Laiskumsche Allee.
„Die hat noch Großonkel Paul angelegt“, erzählte die Mutter, „er wollte die längste Allee haben. Aber dann pflanzte Großonkel Rembert in Katlekaln heimlich eine Eichenallee, die noch länger war, und lud Großonkel Paul ein. Aber der hat sich so darüber geärgert, daß er den Kutscher gleich umkehren ließ, und seitdem ist der Laiskumsche nie mehr nach Katlekaln gekommen!“
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