Und oben auf der höchsten Birke beim Eiskeller lodert eine Teertonne, und überall hinter den weiten Heuschlägen und dunklen Wäldern flammen rote Feuergarben auf in den blaßgrünen Himmel.
Aurel darf länger aufbleiben. Es geht mit der Mutter in die Allee, und dort, am Stamm einer alten Linde, setzen sie sich auf eine Bank.
„Hörst du?“ fragt die Mutter.
Und er hört: aus dem Kleefelde tönt ein heller Vogelruf: „Ki–zoi–witt, ki–wi–witt, ki–wi–witt!“
Dann ist es wieder still.
„Das ist die Schlagwachtel“, sagt die Mutter, „und immer schlägt sie dreibis fünfmal, nie mehr und nie weniger!“
Und immer zählt Aurel: drei Schläge, vier Schläge, fünf Schläge, dann verstummt der Vogel. Und nur die Schnarrwachtel knarrt unermüdlich und ohne Pause.
„Nie mehr und nie weniger“, wiederholt die Mutter seufzend. „Drei Monate, dann ist der Sommer zu Ende, und fünf Monate, dann ist es wieder Winter. Aber jetzt mußt du ins Bett!“
Aurel nimmt die vielen Kränze mit und hängt sie am Bettpfosten über dem Kopfkissen auf. Wie die Wiesenblumen und Gräser duften! Ein Kranz ist voll überreifer Walderdbeeren, die süß auf der Zunge zergehen.
Aber noch lange liegt Aurel wach.
Durch das offene Fenster wehen vom Krug Gesang und Harmonikagedudel, quarren die Frösche im Teich, meckert weit auf dem Heuschlag eine Bekassine, bellt ein schreckender Rehbock im Wald. Die weiße Johannisnacht singt mit all ihren Stimmen das Lied vom kurzen Sommer.
Die große Kalesche mit dem Viererzug steht vor der Veranda; Marz sitzt in seinem blauen Kutscherrock mit den Silberknöpfen und dem enggeschnürten Gürtel dick und steif auf dem Bock; Janz und die schwarze Tina binden hinten unter dem zurückgeklappten Verdeck den großen Reisekoffer auf; Karlin rennt aufgeregt mit einer Hutschachtel, Handtaschen und Plaids hin und her; Karlomchen hält den Speisepaudel in der Hand.
Tof sitzt schon neben Marz auf dem Bock. Dann steigen die Mutter und der Vater ein, in weißen Staubmänteln, zuletzt klettern Adda und Aurel auf das blau gepolsterte Bänkchen, das auf der Rückseite des Bockes vor den Füßen der Eltern aufgeklappt ist.
Schon ziehen die Pferde an, da ruft die Mutter: „Der Schirm! Der Schirm!“ und Marz muß noch einmal halten. „Der Schirm!“ ruft die schwarze Tina. „Der Schirm!“ Fömarie. Alles ruft: „Der Schirm!“ Aber da kommt schon Karlomchen mit dem Schirm angerannt, die Kalesche rollt um den runden Rasenplatz, alles winkt von der Veranda, und dann biegt der Wagen in die Allee.
Diesmal ist es eine weite Reise, eine „Wurstpartie“, sagt der Vater: „Wo die eine Wurst aufhört, da fängt die andre an!“ Und die Würste, das sind die vielen Onkel und Tanten.
Balthasar und Reinhard werden nämlich in Altschwanensee konfirmiert, und da kann man auf dem Wege dorthin die vielen Verwandten abgrasen.
Zuerst kommen die Mojahnschen an die Reihe. Onkel Leopold hat noch immer Haarbüschel in den Ohren und Nasenlöchern und den Gummistock mit dem Elfenbeingriff. Und Tante Melanie häkelt an einem neuen Wunderknaul. In Mojahn sind alle gelben Rouleaus heruntergelassen, damit es kühl bleibt und die Sonne nicht blendet. Auf dem Fensterbrett stehen überall Teller mit lila Fliegenpapier, auf denen es von toten und halbtoten Fliegen wimmelt. Onkel Leopold kämpft einen erbitterten Kampf gegen alles, was er „Biester“ nennt, und Fliegen und Russen sind „Biester“.
„Ich begreife nicht“, sagt er und stelzt, auf den Stock gestützt, mit einer Fliegenklappe von einer Wand zur andern, „ich begreife nicht, warum der liebe Gott diese Biester geschaffen hat!“
Und jedesmal wenn die Klappe klatscht, erklärt er feierlich: „Iwan, du bist tot!“
Dann führt er Aurel und Christof in sein Schlafzimmer.
„Für jede Fliege“, sagt er, „die ihr hier fangt, schenke ich euch ein silbernes Zehnkopekenstück!“
Darauf schloß er die Tür, und Aurel und Tof blieben allein im unheimlich dunklen, von blauen Gardinen verhängten Raum. Irgendwo hoch oben am Fenster summte eine Fliege. Tof kletterte aufs Fensterbrett, konnte sie aber nicht fangen.
„Das machen wir einfacher“, sagte er, sprang herunter, öffnete leise die Tür und kam bald mit zwei gefangenen Fliegen zurück.
„Aber die hast du nicht hier gefangen!“ meinte Aurel.
„Doch“, versicherte Tof eifrig, „ich werde sie hier fangen!“ Damit ließ er die Fliegen los und brachte gleich neue. Dann fing er sie an der Fensterscheibe und zerquetschte sie mit dem Daumen.
„Du kannst auch eine zerquetschen“, sagte er großmütig.
Aurel hielt eine Fliege zwischen den Fingern, als er aber sah, daß er ihr den Flügel ausgerissen hatte, ließ er sie los und lief entsetzt fort.
Am Nachmittag ging Onkel Leopold mit dem Vater und Aurel über den Hof. Die Knechtskinder liefen auf ihn zu, und er hielt ihnen den Elfenbeinstock hin, den sie ehrfürchtig küßten.
„Die Rotznasen säwern so“, sagte der Onkel zum Vater.
Am andern Morgen führte der alte Mojahnsche Aurel und Christof vor die große Wanduhr, die im Speisezimmer hing.
„Seht euch diese Uhr an“, erklärte er feierlich und wies mit dem Stock auf das Zifferblatt. „Dies ist die letzte Uhr in Livland, die richtig nach altlivländischer Zeit geht! Die Petersburger Affen können machen, was sie wollen, aber die Sonne und die Uhr in Mojahn können sie doch nicht umstellen!“
„Mein Gott, es ist schon zehn“, sagte die Mutter, „wir müssen fahren!“
„Es ist zwanzig Minuten vor zehn“, polterte Onkel Leopold ingrimmig. „Ihr habt also noch Zeit!“
Nein, die Koiküllschen Cousinen wollte der Vater nicht besuchen.
„Aber das ist sehr unhöflich“, meinte die Mutter, „wenn sie es später erfahren …“
„Um so besser“, lachte der Vater, „dann lassen sie beim nächsten Weihnachtsbesuch selbst anspannen!“
Und so fuhr die Kalesche an Koiküll vorbei und hielt statt dessen am Krug von Trikaten, hier mußten die Pferde abgefüttert werden.
Auf dem Rasenhügel neben der Ruine lagerte man, der Speisepaudel wurde ausgepackt, Tof und Aurel durften in der Krugbude Pfefferkuchen kaufen, Pfefferkuchen, die so groß, so dick und so zäh wie alte Stiefelsohlen waren, mit einer Mandel in der Mitte, und die nach trockenem Sand schmeckten.
„Warum ist das Haus kaputt?“ fragte Aurel und zeigte auf die Ruine.
„Einmal war es ein Schloß“, sagte die Mutter, „und Ritter wohnten darin. Aber dann kamen die Russen und zerstörten die Burg.“
„Und die Ritter?“ erkundigte sich Aurel.
„Die sind im Kampf gefallen“, erklärte die Mutter.
„Alle?“
„Alle.“
Die Mutter schwieg. Verwittert und grau ragte die zerbröckelte Mauer in den sommerlichen Himmel. Im Grase zirpte es. Ein grauer Würger mit schwarzem Strich durch die Augen wippte schmatzend auf der Spitze eines Ellernbusches.
Es war schon Abend, als sie in Kangermois ankamen. Onkel Gottlieb, im grauen Schlafrock mit roten Aufschlägen, eine Petroleumlampe in der Hand, stand auf der Veranda, und um ihn herum wimmelten die Cousinen: Marliese, Agathe und Clementine. Alle hatten blau karierte Schürzen und rote Gesichter. Alle umarmten, küßten, lachten und rissen sich um die Kinder:
„Nein, der gehört mir!“ – „Nein, mir!“
Aurel und Adda wurden hin und her gezerrt. Endlich waren die Kinder verteilt: jede Cousine hatte eins. Und jede schleifte ihren Schützling mit sich herum: in den Hühnerstall, in den Viehstall, zu den Kälbern und Ferkeln.
Onkel Gottlieb ging immer im Schlafrock und Pantoffeln, zwei rote Troddeln auf dem Bauch. Jeden Morgen wanderte er so in den Viehstall, und jeden Abend saß er so auf der Veranda und sah zu, wie die Herde heimkehrte. Nur mittags zog er sich einen weißen Leinenrock an, kurze Reithosen und Wasserstiefel, obgleich er niemals ritt und nie spazierenging. Und die drei oberen Knöpfe der Weste waren immer offen, und auch ein Hosenknopf vorn war gewöhnlich aufgegangen.
Читать дальше