„Aber Vater“, sagte Marliese und stieß ihn an.
„Wa?“ schrie Onkel Gottlieb, denn er war harthörig.
„Der Knopf!“ stöhnte Marliese.
„Es belohnt sich nicht!“ brummte Onkel Gottlieb laut und knöpfte sich ungeniert die Hose zu.
„Wir sollten das Verandageländer in Ordnung bringen lassen“, seufzte Agathe.
„Und die Dachrinne soll verstopft sein!“ klagte Clementine.
„Wa?“ schrie Onkel Gottlieb.
„Die Dachrinne ist verstopft!“ trompetete Clementine.
„Verstopft? Wer ist verstopft?“
„Die Dachrinne!“
„Das belohnt sich nicht!“ knurrte Onkel Gottlieb ärgerlich. „Irgendwo wird das Wasser schon abfließen!“
Nur die Kühe waren seine Leidenschaft, und auch der Vater und die Mutter mußten sie bewundern. Aurel ging mit.
„Wa?“ brüllte Onkel Gottlieb, als sie vor dem Zuchtstier standen.
„Großartig!“ sagte der Vater anerkennend.
„Wa?“
„Großartig! Ein großartiger Stier!“ schrie der Vater verzweifelt.
„Das weiß ich, daß es keine Kuh ist!“ brummte Onkel Gottlieb und ging weiter.
Die Mutter stelzte unglücklich mit hochgehobenen Röcken zwischen den vielen Kuhschwänzen umher: „Mein Gott, Aurel, schnell zur Seite!“
„Kühe sehen doch immer wie Kühe aus“, meinte sie erschöpft, als sie ins Haus zurückgingen.
„Wa?“ brüllte Onkel Gottlieb.
„Wunderbare Kühe!“ schrie die Mutter, so laut sie konnte.
„Gar kein Wunder“, knurrte Onkel Gottlieb verdrießlich, „wenn man sie richtig hält und füttert!“
Bei Tisch erzählte Onkel Gottlieb manchmal Geschichten, die Aurel nicht verstand, die aber komisch sein mußten, weil der Onkel dabei so lachte. Marliese, Agathe und Clementine wurden dann immer rot. Die Mutter sah verzweifelt auf ihren Teller.
„Wa?“ schrie Onkel Gottlieb.
„Später!“ brüllte der Vater.
„Warum später?“ lachte Onkel Gottlieb dröhnend und schlug sich auf das Knie: „Das belohnt sich nicht!“
Wieder schaukelte die Kalesche auf der breiten, sandigen Landstraße, die Räder mahlten knirschend den tiefen Grand, eine dicke Staubwolke zog hinterher und schlug dann und wann zum Ersticken heiß und schwer in den Wagen. Das schwarze Schutzleder war schon ganz grau überzogen, mit dem Finger konnte man schön darauf zeichnen. Manchmal durfte Aurel auf den Bock, und dann hockte Tof tiefgekränkt auf dem Rücksitz.
Von oben sah alles ganz anders aus: die Landstraße, der Graben, das Roggenfeld, die endlosen Heuschläge, Moore und Wälder. Und mitten darin, ganz vorn, ganz nah, die vier immer gleichmäßig schaukelnden Hinterteile der trottenden Pferde. Das schwarze, silberbeschlagene Ledergeschirr tanzte und hüpfte hin und her auf den prallen, glatten Backen. Dann und wann hob sich ein Schwanz, und mitten im Lauf ließ ein Roß unbekümmert seine fettglänzenden Äpfel fallen.
Im Walde, an einem kleinen Bach, wurde gerastet. Die Pferde bekamen Hafer, und für die Menschen gab es hartgekochte Eier, Schinkenbrötchen und Speckkuchen mit Rosinen. Der Vater zerschnitt das ungeschälte Ei mitten durch, hob mit der Messerspitze das Innere aus der Schale und schluckte jede Hälfte mit einem Bissen herunter. Aber die Mutter kickste die Eier mit den Kindern, und wer das stärkste hatte, war König.
Dann durften die Kinder Schuhe und Strümpfe ausziehen und barfuß im Wasser plantschen. Es war ein flacher, schnellfließender Bach mit großen, glatten Kieselsteinen. An der Bohlenbrücke mit dem bemoosten Geländer stand eine alte Birke mit rissiger Rinde. Es war eigentlich nichts Besonderes an dieser Birke, auch nichts an der alten Brücke mit dem Bach und der Landstraße – aber plötzlich fühlte Aurel, daß er diese Stelle hier mitten im Walde immer wieder erkennen und nie vergessen würde.
Nach dem Essen ging der Vater mit den Jungen „Riezchen“ suchen. Jeder mußte allein hinter einen bestimmten Busch gehen – aber keiner fand einen Pilz.
„Sonderbar“, lachte der Vater, als er wieder herauskam, „und gerade hier wuchsen sonst immer so viele Riezchen!“
Dann fuhr man weiter.
Onkel Oscha stand auf dem Rasenplatz von dem einstöckigen grauen Holzhaus mit den weißen Fenstern und winkte schon von weitem.
Wieder wurden die Ohrläppchen befühlt und so lange gezupft, bis süße Karamelbonbons herauskamen.
„Das Pinkazimmer, das Pinkazimmer!“ rief Aurel, „jetzt mußt du es uns zeigen!“
„Pinka“ war nämlich die Haut von gekochter Milch – das Schrecklichste, was es für die Kinder gab. Und Onkel Oscha hatte immer erklärt, daß er bei sich zu Hause in Waimasch ein ganzes Zimmer voll Pinka hätte, durch das man sich durchessen müsse, wenn man zum Pflaumen- und Apfelzimmer gelangen wollte.
Nein, das Pinkazimmer war nirgends zu entdecken, aber alle Räume sahen auch so merkwürdig genug aus: im Saal hingen die Tapeten in großen Fetzen von den Wänden. Ein paar zerschlissene Polsterstühle – das war die ganze Einrichtung. Im Speisezimmer zog sich ein schwarzer Riß quer über die Decke, neben der Küchentür war der Mörtel abgebröckelt, so daß das Holzgeflecht hervorschaute. Die morschen Stufen der schmalen Gartenveranda hatten tiefe Löcher, das verfaulte Geländer hing wackelnd in der Luft.
„Warum ist hier alles kaputt?“ fragte am Abend Aurel die Mutter.
„Weil Onkel Oscha fast nie zu Hause ist“, sagte die Mutter.
„Und warum ist er nie zu Hause?“ forschte Aurel.
„Weil er so allein ist, keine Frau und Kinder hat“, meinte die Mutter.
„Und warum hat er nicht geheiratet?“
Die Mutter schwieg. Dann sagte sie nachdenklich:
„Weil die Tante, die er haben wollte, einen anderen Onkel geheiratet hat! Und so hat er kein richtiges Zuhause!“
Kein richtiges Zuhause. Aurel lag lange wach und grübelte. Wie furchtbar muß das sein: kein richtiges Zuhause und immer allein. Der arme Onkel. Vielleicht ist er in Wirklichkeit gar nicht so lustig. Vielleicht macht er so viel Spaß, nur damit man nicht merkt, wie traurig er ist. Das muß eine scheußliche Tante gewesen sein, die ihn nicht genommen hat. Aber die Welt ist voller Tanten – warum hat er denn nicht eine andere geheiratet?
Nach dem Mittagessen ging Onkel Oscha immer „russisch lesen“ – dann durften die Kinder nicht im Hause herumrennen. „Russisch lesen ist nicht so einfach“, sagte der Onkel, „das kann man nur, wenn alles still ist! Aber um drei – dann könnt ihr mich holen!“
„Aber Onkel Oscha, du hast ja gar nicht russisch gelesen, du hast geschlafen!“ schrien die Kinder, als sie in sein Schreibzimmer stürmten, wo der Onkel auf dem alten Ledersofa lag.
„Geschlafen? Ihr seid wohl verrückt? Wer wird denn am Tage schlafen, wo es so viele russische Bücher gibt!“ Onkel Oscha rieb sich das Gesicht, strich die beiden weißen Vollbartspitzen nach rechts und nach links: „Seht, wie müde meine Augen sind vom vielen Lesen! Russische Bücher sind besonders anstrengend!“
„ Zeig das Buch, zeig das Buch“, schrie Aurel.
„Komm mal her, dann werde ich es dir schon zeigen! Oder willst du die Engel im Himmel pfeifen hören?“
Onkel Oscha richtete sich auf – kreischend jagten die Kinder hinaus.
Aber am schönsten war es, wenn Onkel Oscha auf seinem alten Ledersofa saß und sang. Er sang nur ein Lied, und das hatte nur wenige Worte, aber er mußte es immer wieder vorsingen – so schön war es:
„Die Seele schwingt sich in die Höh’ – juchhe!“
(Onkel Oscha hob beide Arme in die Luft – es war, als flöge er wirklich mit dem weißen Vollbart zur Decke hinauf.)
„Der Leib allein bleibt auf dem Kanapee!“
(Und Onkel Oscha sank wie tot auf das Sofa zurück. Die goldene Uhrkette mit der roten Koralle blitzte auf seinem Bauch.)
Aber dann saß er wieder und strich sich seine Bartspitzen:
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