Als die Tür sich hinter dem Doktor schließt, wird alles wieder dunkel. Eine brennende Kälte, eine eisige Hitze schüttelt den Körper, und dann fängt das Feuer an zu jucken; rote kleine Punkte brechen auf der Haut hervor, winzige Maulwurfshümpel, der ganze Körper fühlt sich wie dicke Erbsensuppe an, wenn man mit dem Löffelrücken über die Kugeln rollt.
Es ist Scharlach. Bald liegt auch Adda in ihrem braunen Gitterbett neben Aurel. Der Saal wird abgesperrt, die großen Brüder dürfen nicht herunter. Fömarie gurgelt den ganzen Tag und wäscht sich mit Sublimat ab. Die Mutter schläft und wacht bei den Kindern, Karlomchen und die schwarze Tina helfen ihr bei der Pflege.
Einmal – Aurel wacht aus tiefer Bewußtlosigkeit auf – sieht er die Mutter zwischen den beiden Betten auf dem Fußboden knien, das Gesicht in die Hände vergraben. Er hört die Mutter flüstern, als spräche sie mit jemand, aber niemand ist im Zimmer, und er kann ihre Worte nicht verstehen. Dann sinkt er wieder in Schlaf.
Endlich lichtet sich das Dunkel. Gedämpfte Sonne fällt hinter einem Schirm ins Zimmer. Die roten Hümpel auf der Haut trocknen aus, blättern sich ab, es juckt noch ein wenig, aber das Feuer ist ausgebrannt, und die Eisstücke sind geschmolzen.
Aurel und Adda sitzen aufrecht im Bett, spielen mit den Puppen, mit Bauklötzchen, bauen Kaleschen. Karlomchen muß immer wieder die Geschichte vom „Großen und kleinen Klaus“, von „Plisch und Plum“ oder „Hans Hukkebein“ vorlesen, und die Mutter muß erzählen – von ihrer Mutter, und wie sie selbst noch klein war.
Nein, an ihre Mutter erinnert sie sich nicht: bald nach ihrer Geburt starb sie, mit neunundzwanzig Jahren; „und acht Kinder hatte sie: Tante Olla, Onkel Oscha, Onkel Nicolas, Tante Melanie, Tante Leocadie …“ Aber Aurel kann nie die vielen Tanten und Onkel behalten. Nur das weiß er: daß die Mutter die Jüngste war und daß sie selbst nie eine Mutter gehabt hat.
„Nie eine Mutter“, wiederholt er nachdenklich.
„Und wer hat dir dann die Haare gekämmt“, fragt Adda aus ihrem Bett, „und dich aufs rote Bänkchen gesetzt?“
„Hanninka“, sagt die Mutter, „Hanninka war unser Karlomchen!“
„Und alle Tanten und Onkel gehören dir“, fragt Aurel ganz betroffen, „und Papa ist ganz ohne?“
„Papa hat nur einen Bruder“, sagt die Mutter, „das ist Onkel Henry, und der ist in Amerika.“
„Ist Amerika weit?“
„Sehr weit, hinter einem großen Meer.“
„Und kommt er nie mehr zurück?“
„Das weiß ich nicht“, sagt die Mutter.
Dieser Onkel ist geheimnisvoll. Er ist noch rätselhafter als der Vater. Er ist so unsichtbar wie der liebe Gott. Ob er auch lange Pfeifen raucht und Hasen schießt? Und warum ist er in Amerika? Und wie ist er hingefahren? Auf einem großen Schiff? Der unsichtbare Onkel Henry, von dem man nur weiß, daß er in Amerika ist, schlägt für einige Zeit alle anderen Onkel und Tanten aus dem Felde.
Einmal steht der Vater in der Tür, auf der Schwelle, aber ins Zimmer kommt er nicht.
„Faulpelze!“ sagt er und droht mit dem Finger. „Immer noch im Bett!“ Dann schließt sich die Tür.
Bald können Aurel und Adda aufstehen. Die Beine taumeln ein wenig, in den Knien ist so ein komisches Gefühl, und der Fußboden schaukelt. Das Zimmer ist plötzlich so klein geworden, die Betten und Stühle, ja sogar die Mutter und Karlomchen sind zusammengeschrumpft; alles ist ein Stück in die Erde hineingesunken. Oder ist man selbst mit einem Ruck höher hinaufgewachsen? Die Arme und Beine sind jedenfalls viel länger geworden. Sie sind so lang, daß man gar nicht weiß, wo man sie hinlegen soll.
Und der Kopf ist für den Hals viel zu schwer geworden: er neigt sich nach rechts, nach links – wenn er nur nicht von den Schultern herunterrollt. Am besten, man kriecht wieder ins Bett. Karlomchen bringt kühles Apfelmus, und mit einem feinen säuerlichen Geschmack im Munde schläft man wieder ein.
Fast jeden Tag kommt Doktor Martinell. Einmal fragt er:
„Und wie ist der Stuhlgang?“
Aurel sieht ihn verwundert an: Stuhlgang? Kann denn ein Stuhl gehen?
Karlomchen übersetzt den medizinischen Ausdruck in die Kindersprache. Als der Doktor gegangen ist, wiederholen Aurel und Adda immer wieder dieses komische Wort. Nach dem Abendgebet muß Adda plötzlich kichern. Aurel weiß ganz genau, was sie denkt. Dann flüstern beide so leise, daß Karlomchen es nicht hören kann: „Stuhlgang!“ und sind sehr glücklich über dieses neue und seltsame Wort.
Und dann, an einem hellen Märzmorgen – der ganze Saal ist voll Sonnengeflimmer, gesprenkelter Oleanderschatten und Hyazinthenduft –, wandern beide Kinder ins Badezimmer, das neben der Backstube liegt. Hier werden sie in einem gewaltigen Holzbottich mit grüner Seife abgewaschen, und damit ist der Scharlach beendet. Die Kerze unter dem dunklen Weihnachtsbaum hat diesmal gesiegt: die schwarzen Schatten sind fortgezogen.
Aber ein flackerndes Licht nahmen sie mit.
Es war noch ganz früh, als Aurel, in seine Decke dick eingepackt, von Janz die Treppe hinuntergetragen wurde. Im Flur stand Herr Ackermann, in Vaters schwarzem Bärenpelz sah er so jämmerlich aus, als hätte ihn der Bär verschluckt. Unter der schwarzen Karakulmütze war sein Gesicht weiß wie ein Handtuch. Er hustete, und in der Hand hielt er ein Näpfchen, über das er sich dann beugte.
„Ich fahre dorthin, wo die Sonne noch wärmer ist“, sagte er keuchend und strich über Aurels Scheitel, „aber deine Sonne nehme ich mit!“
Vom Spielzimmerfenster sah dann Aurel, wie die Kibitke um den Platz fuhr. Der alte Marz kutschierte, und Doktor Martinell, der Herrn Ackermann bis zur Stadt begleitete, beugte sich winkend heraus.
Die Schellen läuteten, die Kufen knirschten auf dem gefrorenen Schnee, der nackte Ahorn schimmerte rosig in der Morgensonne.
Dann bog der schwarze Schlittenkasten in die kahle Allee und verschwand schwankend zwischen den dunklen Bäumen.
In den Gräben gluckert es, die Weidenkätzchen sind schon ganz silbern, im Kleinen Walde blühen bläuliche Anemonen und weiße Sternblumen; und Fömarie legt ihre Pelzpelerine in die Mottenkiste.
Dann klappert es auf dem Storchnest, Schwalben zucken durch die Luft – und mit einem Mal ist es Sommer. Immer wieder muß Janz die Trittleiter holen und mit einem Besen die Schwalbennester in der Veranda herunterkratzen. Das ist ein furchtbarer Anblick, aber die weißen Spritzer auf dem Ecksofa kann man nicht dulden. Die Mutter seufzt. Der Vater lacht: „Die Biester können doch auch woanders ihren Dreck machen!“
Einmal am Abend sitzt Janz auf dem runden Mühlstein, der als Tisch vor Mutters Lieblingsbank steht, bei der roten Klete. Seine nackten Füße baumeln in der Luft, er schnitzt mit seinem krummen Gartenmesser runde Löcher in einen Weidenast, und Aurel sieht ihm gespannt zu.
Es ist ein fingerdickes, ganz gerades Aststück mit graugrüner Rinde.
Janz legte es auf den Mühlstein zwischen seine Beine und beklopfte es mit dem schweren Messergriff.
„Warum tust du das?“ fragt Aurel.
„Damit sich die Rinde löst“, sagt Janz und lacht, „wie soll ich sonst eine Flöte machen?“
Und wirklich: langsam löst sich das weiße glatte Holz, kriecht ein Stückchen aus der Rinde hervor – Janz klopft und klopft –, und dann zieht er das ganze nackte Aststück aus der grünen Röhre.
„Man muß nur lange klopfen“, sagt er, „sonst geht die Rinde kaputt!“ Dann schnitzt er ein Mundstück, setzt am anderen Ende einen Holzpfropfen hinein – und die Flöte ist fertig. Sie klingt ein wenig schrill, und sie hat eigentlich nur zwei Töne, aber man kann auf ihr blasen, und Aurel ist sehr glücklich.
Und glücklich ist er überall, am Teich, wenn er mit dem grünen Wasserschöpfer Feuersalamander fängt und wieder losläßt, wenn er im Treppenhaus auf dem glatten Geländer herunterrutscht, im „Tschulanchen“ herumstöbert oder auf dem Spielplatz im Garten aus Lehm und Steinen ein richtiges Haus baut. Den Lehm gräbt er sich selbst aus der Erde, und die Steine schleppt er mit Adda in einer „Tatschke“, einem Schubkarren, vom Grandhaufen hin. Der Lehm wird in einer Holzkiste richtig mit Wasser verrührt, bis er ganz klebrig ist, und dann wird er mit den Händen zwischen die Steine geknetet.
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