„Warum?“ fragt Aurel.
„Weil es so hübscher aussieht“, sagt Karlomchen und rollt einen neuen Teigklumpen aus.
„Und warum bekommen die Hasen keine Mandel?“ fragt Aurel vorwurfsvoll.
„Papperlapapp“, sagt Karlomchen und wendet den Teig, „lirumlarum Löffelstiel, kleine Kinder fragen viel, fragen dies und fragen das: warum ist der Regen naß? Warum …“
Und schon stürzt sie zur Ofenklappe und zieht mit einem eisernen Haken die Pfanne heraus. Das ganze Haus duftet nach Pfefferkuchen, nach Honig, nach Sirup, Marzipan und Safran.
Und wenn es dunkel wird, sitzt alles im Saal am großen runden Tisch um die weiße Petroleumlampe: dann werden Walnüsse und Tannenzapfen vergoldet, bunte Kugeln, glitzernde Pappengel, Sterne, winzige Silbertrompeten ausgepackt und Ketten aus Goldpapier geschnitten und geklebt. Auch die großen Brüder arbeiten mit, wenn sie auch merken lassen, daß sie eigentlich viel zu groß dafür sind – aber die Pfeffernüsse, die Karlomchen auf den Tisch gestellt hat, verschmähen sie doch nicht.
Dann und wann kommt auch der Vater aus dem Lesezimmer, schaut zu, pafft dicke Rauchwolken über den Tisch und sagt plötzlich:
„Eine Motte!“
Die Mutter, Karlomchen, Fömarie, die Kinder – alles springt auf, alles klatscht mit den Händen wild in der Luft herum:
„Mein Gott – die Lampe – wo? Wer hat sie?“
Aber die Motte und der Vater sind ebenso plötzlich wieder verschwunden.
Und dann kommt der Tag, an dem der Vater mit den großen Brüdern in den Wald geht, um den Weihnachtsbaum zu holen. Den ganzen Nachmittag hocken Aurel und Adda auf dem Fensterbrett im Spielzimmer und drücken die Nasen an der Glasscheibe platt. Draußen ist alles weiß, und immer neue weiße Flocken fallen groß und dicht vom Himmel herunter. Den kahlen schwarzen Ahorn kann man kaum noch erkennen.
Endlich tauchen vermummte Schneemänner in der milchigen Dämmerung auf, der Vater, die Brüder – und hinter ihnen wandert, lang ausgestreckt auf vier Beinen, dunkel, mit schaukelnden Ästen, ein mächtiger Baum. Beide Flügel der Haustür werden aufgerissen, Mickel und Janz zerren, ziehen und stoßen, ein eisiger Wind weht in den Flur – „Kinder, es zieht!“ jammert Fömarie –, und das schwankende Ungetüm rauscht in den Saal. Es riecht nach Tannennadeln, Harz und Rinde. Dann steht der Baum da. Von den Ästen tropft es, Eisklumpen fallen klirrend auf den Fußboden. Es ist, als wäre der ganze dunkle Wald in das Haus eingebrochen.
Am nächsten Tag wird geschmückt: die goldenen Walnüsse und Tannenzapfen, die bunten Kugeln, die Ketten, Sterne, Kerzen und das silberne Christkindleinshaar werden aufgehängt – die großen Brüder müssen auf der Trittleiter hinaufsteigen –, und zuletzt hängt die Mutter den rosigen Wachsengel auf, der ein weißes Seidenfähnchen in der Hand hält, auf dem in Goldbuchstaben geschrieben steht: „Friede auf Erden!“
Dann werden die Türen geschlossen, und keiner darf in den Saal. Drinnen werden Tische gerückt, wird geflüstert, raschelt Packpapier, Karlomchen rennt hin und her, große, in weiße Tücher gehüllte Geheimnisse schweben durch die Dämmerung. Die Kinder müssen sich warm anziehen und werden in die Schlitten verpackt. Aurel und Adda dürfen vorne mit dem Vater fahren, die Mutter – Karlin bringt noch schnell eine Wärmflasche für die Füße – und Fömarie folgen mit Marz; die großen Brüder kutschieren sich selbst. Karlomchen und Herr Ackermann bleiben zu Hause.
In der Kirche ist es eiskalt. Der Atem steigt wie Dampf aus den Mündern. Man muß mit den Füßen hin und her treten, damit die Zehen nicht erfrieren. Der Pastor steht in einem langen schwarzen Nachthemd zwischen zwei brennenden Weihnachtsbäumen – warum zieht er sich nicht wärmer an? Und dann poltert, quiekt und dudelt es hoch oben in der Luft – aber man kann den großen Leierkasten gar nicht sehen. Und alles fängt an zu singen. Wieder laufen die Eiskugeln über den Rücken, wieder steigt es heiß in die Augen auf, die Lichterbäume fangen an zu schwimmen, aber Aurel starrt immer auf das schwarze Nachthemd, es ist so breit und groß: vielleicht hat er darunter einen Pelz an? Dann schielt er zum Vater hinüber. Der sitzt so ernst und feierlich da, die rote Fuchsfellmütze in der Hand – nein, lachen wird er nicht.
Ein Mann mit einem langen Stock, an dem ein Schmetterlingsnetz hängt, geht von Reihe zu Reihe, und jeder wirft etwas hinein. Die Mutter drückt Aurel ein silbernes Zehnkopekenstück in die Hand, und er wirft es in den Beutel. Endlich kann man nach Hause fahren. Es ist schon dunkel, an jedem Schlitten brennt eine Laterne. Dickverschneite Tannenzweige tauchen im Lichtschein auf und verschwinden wieder in der Finsternis. Die Schellen klimpern.
Zu Hause gibt es heiße Schokolade mit Schmantschaum und gelbes, noch ganz feuchtwarmes Safranbrot mit Rosinen und Mandeln.
Dann werden die Kinder im Lesezimmer eingesperrt. Hier ist es ganz dunkel. Nur die Ritze unter der Tür wird immer heller, und als es zum dritten Mal klingelt, geht sie auf. Aber es blendet so, daß man zuerst gar nichts sehen kann. Endlich hat jeder seinen Tisch gefunden, benommen steht man davor, betastet die vielen Sachen, stopft sich etwas Süßes in den Mund und besieht sich mit scheinbarem Interesse auch die Geschenke der anderen, damit diese den eigenen Tisch bewundern.
Dann geht alles in den Großen Korridor hinauf, wo der Leutebaum brennt, die Mägde und Knechtskinder mit buntem Kattun, Wollsocken, Fausthandschuhen, Pfeffernüssen und Knallbonbons beschert werden. Indrik, der Gärtner, taktiert, ein schriller, klagender Gesang heult durch das Haus. Dann drängt sich alles zum Händeküssen, aber Aurel läuft schnell vorher hinunter.
Noch flackern die Wachskerzen, aber hier und dort ist eine schon heruntergebrannt, man muß den Stummel auspusten. Der Vater bläst mit dem Pfeifenrohr die Lichter oben an der Spitze aus. Manchmal knistert ein kleiner Ast, und es riecht dann so gut nach den angebrannten Nadeln. Immer dunkler werden die Schatten der Tannenzweige an den Wänden und oben an der Decke. Zuletzt brennt nur noch eine Kerze tief verborgen am Stamm – „das ist Schwesterchens Licht“, sagt die Mutter leise, „jetzt ist sie bei uns, und jetzt wollen wir an sie denken.“
Alle müssen schweigen, es ist so still, daß man das Flackern der unsichtbaren kleinen Flamme hört. Aurel blickt zur Decke hinauf, die schon fast ganz von schwarzen Astschatten verdunkelt ist, nur hier und dort schimmert ein schwacher Lichtschein durch. Es ist, als wüchse oben der Schattenbaum immer dichter und dunkler zusammen, als kämpfe das kleine Licht gegen die große Finsternis. Und dann erlischt es.
Karlomchen zündet die Lampe an.
Der Vater ist aufgestanden, klopft an das Barometer und sagt:
„Es klärt sich auf, morgen fahren wir auf die Hasenjagd!“
„Aber ich bitte dich“, sagt die Mutter, „morgen kommen doch die Koiküllschen Cousinen zu Mittag!“
„Um so besser“, meint der Vater schmunzelnd, „ich habe sie nicht eingeladen!“
„Aber ich mußte es doch tun“, seufzt die Mutter, „und dann hat man ein Jahr wieder Ruhe!“
Diese Koiküllschen Cousinen sind immer zu Weihnachten fällig, und wenn sie fort fahren, hat die Mutter Kopfschmerzen und muß sich ins Bett legen.
„Nein“, stöhnt sie dann und preßt ein Taschentuch mit Eau de Cologne an die Schläfe, „wenn man sich mit Ameli unterhält, dann denkt man: Adele ist doch klüger; und wenn man mit Adele spricht: Nein, Ameli ist doch klüger!“
„Sind beide so klug?“ fragt Aurel verwundert.
„Nein, klug sind sie nicht“, seufzt die Mutter.
Und wirklich: der Vater mit den großen Brüdern fährt auf die Jagd, und die Koiküllschen Cousinen kommen. Natürlich schon eine Stunde vor dem Mittagessen, aber es dauert lange, bis sie sich im Vorzimmer aus den Pelzpelerinen, den vielen Unterjacken, Schals, Seelenwärmern und Mantillen herauswickeln, die dicken Filzschuhe ausziehen, die hohen Frisuren zurechtmachen und die feuchten, erfrorenen roten Nasenspitzen abwischen. Aber die grauen Pulswärmer behalten sie an, trotzdem haben sie immer kalte und rauhe Hände. Aurel küßt sie ungern, und die großen Brüder küssen dann immer den eigenen Daumen.
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