Das weiße, lange Gesicht vom Pastor bekommt schon rote Flecke, die schwarze Halsbinde um den niedrigen Kragen ist zur Seite gerutscht, so daß man den Messingknopf sehen kann. Die Stimmen schwirren, die Messer und Gabeln klappern. Dann wird es plötzlich still. Der Doktor ist aufgestanden, die goldene Kette funkelt auf seinem weißen Bauch. Im Aufschlag des schwarzen Bratenrockes steckt eine weiße Aster. Er klopft an sein Glas, räuspert sich, und dann hält er seine Rede auf das Geburtstagskind.
Doktor Martinell redet gern, redet lange und mit viel Gefühl. Er fängt immer mit dem Frühling an und endet mit dem Herbst: „Wir freuen uns an den Blüten, aber wir genießen die Früchte! Und die Kinder sind die Früchte der Frau: an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!“ Dann hebt er sein Glas – Aurel kneift sich tief in die Wade: jetzt, jetzt kommt es. Alles hat sich erhoben, der Pastor stimmt an, und dann tönt es grell und herzzerreißend:
„Hoch soll sie leben, hoch soll sie leben! Dreimal hoch!“
Aurel schluckt und schluckt, Eiskugeln rollen ihm über den Rücken, und in der Kehle brennt es heiß. Lange hält er sich tapfer, starrt angestrengt auf seinen Teller, auf das Wachstuch mit den bunten Max-und-Moritz-Bildern, aber plötzlich verschwimmt alles vor seinem Blick, brennend schießt es in seine Augen, es strömt und strömt, er schluchzt mit zuckenden Schultern.
Und dann hört er dies schreckliche Gelächter, sieht durch den Tränenschleier lauter lachende Köpfe, auch das vom Wein gerötete Gesicht des Vaters lacht, ja, er macht sich sogar über ihn lustig und zuckt, ihn nachäffend, mit den Schultern. Noch nie war der Vater ihm so fremd, ja, in diesem Augenblick haßt er ihn.
Auch die Mutter versucht zu lächeln, aber es glückt ihr nicht ganz. Nur Tante Madeleine lacht nicht, sie ist aufgesprungen, sie stellt sich schützend zwischen ihn und das grausame Gelächter. Dann führt sie ihn hinaus, legt ihn im Grünen Gastzimmer auf ihr Bett, erzählt ihm von Boris, seinem Vetter, von Isa, Maurissa und Warinka, seinen Cousinen, die er noch nie gesehen hat, legt ihre kühle Hand, die so gut riecht, auf seine heiße Stirn, bis er beruhigt einschläft.
Am Abend brennen überall weiße Alabasterlampen. Sogar im Flur, im Treppenhaus, im Großen Korridor – überall ist der weiße Schein der matten Kugelkuppeln, die wie lauter Monde aussehen. Nur im Lesezimmer flackern Wachskerzen in schweren silbernen Leuchtern: dort sind die grünen Kartentische aufgeschlagen, die Herren spielen Whist und trinken Rotwein. Dicke Rauchwolken stehen in der Luft. Alle Türen sind offen. Auch zum Schreibzimmer des Vaters, wo der Kamin prasselt, der Schaukelstuhl leise knarrt und in der Ecke die vielen langen Weichselholzpfeifen aufgereiht im Kreise um einen runden Pfeifenständer stehen.
Karlomchen huscht überall herum, schraubt die Dochte, damit die Lampen nicht blaken, klappert mit dem Schlüsselbund.
„Setz dich doch endlich hin!“ sagte die Mutter.
Karlomchen setzt sich. Aber gleich darauf ist sie wieder verschwunden.
Und dann müssen alle auf die Veranda: rund um den Rasenplatz, in allen Bäumen und Büschen, ja sogar tief in die Allee hinein, leuchten rote, grüne, blaue, gelbe und rosa Papierlaternen. Wie unergründlich, wie geheimnisvoll ist das Dunkel der Zweige im schwachen Schein der bunten Lichter. Dann und wann streicht eine Fledermaus dicht an der Veranda vorüber.
„Mein Gott, eine Fledermaus!“ schreit Fömarie: „Man muß die Fenster schließen!“
Tante Madeleine führt aber Aurel auf die andere Seite des Hauses, auf die Gartenveranda. Hier brennen keine bunten Laternen, aber hoch über den Lebensbäumen funkeln und flimmern die Sterne in der schwarzen Augustnacht. Noch nie hat Aurel so viele und so helle Sterne gesehen.
„Warum zittern sie so?“ fragt er verwundert.
„Weil jeder Stern einen Menschen hat, den er liebt und für den er fürchtet! Wenn der Mensch etwas Schlechtes tut, verliert der Stern seinen Glanz. Und jeder Stern will glänzen!“
Eine Sternschnuppe fliegt schnell über den Himmel und fällt hinter die Apfelbäume.
„Sahst du?“
„Ja, ein Stern ist heruntergefallen“, sagt Tante Madeleine. Lange sieht sie schweigend zum Himmel hinauf. „Und wenn ein Stern herunterfällt“, sagte sie leise, „dann ist ein Mensch gestorben!“
In der Lindenlaube schreit ein Kauz: „Kuwiht, kuwiht, kuwiht!“ Es klingt wie schrilles Gelächter oder wie der Schrei eines Kindes.
Dann fahren die vielen Tanten wieder fort.
Im Grünen, im Rosa Gastzimmer, im Treppenzimmer, im Eßzimmer – überall werden die Betten mit weißen Spitzentüchern zugedeckt, die Waschschüsseln umgestülpt, die Vasen mit den welken Astern hinausgetragen. Die schwarze Tina klappert mit den Eimern, Karlomchen zählt die Wäsche, die Tür zum Lesezimmer ist wieder geschlossen.
Als letzter fuhr Onkel Oscha. Aurel und Adda durften bis zur Flachsweiche mitfahren. Wieder stand alles winkend auf der Veranda, bis die Kalesche von der Allee auf die Landstraße einbog. Aber hier, beim Krug, ließ Onkel Oscha halten. Er ging mit den Kindern in den Kramladen. Wie es hier in der Bude nach Wagenschmiere, nach Heringen, Teer, Juchtenleder, Lakritzen und Wasserstiefeln roch! Mit zwei spitzen Tüten Karamelbonbons kamen sie wieder heraus.
„Warum kannst du nicht länger hierbleiben?“ fragte Aurel verzweifelt, als die Schimmel bei der Flachsweiche hielten.
„Weil ich noch viele andere Ohren untersuchen muß!“
Die Pferde zogen an, Onkel Oschas weißer Staubmantel beugte sich noch lange aus der halbaufgeschlagenen Kalesche heraus, dann war er hinter der dicken Staubwolke verschwunden. Die Kinder standen allein auf der Landstraße, die Bonbontüten in den Händen. Sie setzten sich am Grabenrand neben einen Weidenstumpf und fingen an zu lutschen. Die bunten klebrigen Papierchen werden in die Taschen gesteckt, die Finger abgeleckt, alles ist süß und klebrig. Eine Dreschmaschine summt irgendwo, und auf dem Heuschlag am kleinen Fluß stelzen drei Störche. Wenn sie ein Stückchen auffliegen, hängen die langen roten Beine so komisch in die Luft.
Aurel wendet den Kopf und erschrickt: da kommt auf der Landstraße der „verrückte“ Schweinehüter mit seinen Schweinen gerade auf sie zu. Dieser Schweinehüter ist ein Idiot, der immer mit sich selbst redet und lallend mit einem Stock hinter den Schweinen hertorkelt. Er hat einen zerrissenen, schwappenden Strohhut, zerlumpte Hosen, ein unheimliches, bärtiges Gesicht mit immer offenem Mund und verblödeten Augen.
Die Kinder sind aufgesprungen, halten sich an den Händen und rennen, was sie können. Aber jetzt fängt auch der Verrückte an zu laufen, mit geschwungenem Stock und weißem Schaum vor dem Munde – Aurel sieht es ganz deutlich, als er sich umwendet –, und alle Schweine galoppieren hinter ihm her. Bis nach Hause ist es noch weit, Adda kann nicht schnell laufen, und der Verrückte kommt immer näher. Aber da ist die Flachsweiche mit dem hohen Schilf und den dichten Weidenbüschen.
Aurel klettert über den Graben, zieht Adda nach, und beide verkriechen sich in dem grünen Dickicht. Am ganzen Leibe zitternd, hören sie den Verrückten lallend vorbeistolpern, das Grunzen und Quieken der Schweine. Noch lange hocken sie da versteckt. Aurel zieht einen Kalmusstengel aus der moorigen Erde, schält das rote Ende ab und riecht am weißen Mark: wie geheimnisvoll das duftet! Und genau so merkwürdig schmeckt auch der dikke, kühle Stengel, wenn man daran knabbert. Dann bricht er einen braunen Schilfkolben ab, der sich wie Samt anfühlt, und einen für Adda, und beide wandern Hand in Hand über die kahlen Stoppelfelder heimwärts.
Die Tage werden immer kürzer, in den Nächten friert es schon. Janz muß wieder die Öfen heizen. Aber mittags scheint noch die Sonne warm auf die Veranda, die Mutter sitzt auf dem rotweiß gestreiften Ecksofa, den weißen Schal um die schmalen Schultern, und stopft. Der Ahorn am Eingang zur Allee ist blutrot. Und die Laubgardine vor dem Wirtschaftsweg wird immer gelber und dünner.
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