„Und darum sind wir deutsch und sprechen Deutsch!“ schloß die Mutter und schälte weiter.
Aber Aurel grübelte noch lange, und als er in seinem Gitterbett lag und die Mutter ihm nach dem Abendgebet den Gutenachtkuß gab, hielt er ihre Hand fest und fragte:
„Warum sprechen die Menschen so viele verschiedene Sprachen, und warum kämpfen sie?“
„Weil sie die Himmelssprache vergessen haben“, sagte die Mutter und hob langsam den Kopf, „einmal sprachen alle die Himmelssprache, aber dann bauten die Menschen einen hohen Turm, und jedes Volk wollte höher sein als das andere. Da vergaßen sie Gottes Wort, und nun versteht kein Volk das andere! Aber einmal –“, und die Hand der Mutter strich leise über das Haar des Jungen, „einmal werden alle wieder die Himmelssprache sprechen!“
„Auch Grischa?“
„Auch Grischa. Aber wir selbst müssen sie auch lernen!“
Aurel schlief beruhigt ein.
Aber dann kam ein Abend, den Aurel nie vergaß und der sich tief in sein Herz brannte.
Es war schon dunkel, als der Vater mit den großen Brüdern von der Jagd heimkehrte. Mickel blies auf dem Horn, draußen vor der Veranda, wo die Brettdroschke hielt. Die Brüder kamen aufgeregt ins Haus gelaufen, und dann rannte alles zum Eiskeller, die schwarze Tina, Karlin, Fömarie, und Aurel rannte mit. Fömarie war so erregt, daß sie ganz vergaß, Watte in die Ohren zu stopfen.
Und hier, auf dem kurzen, flachgetrampelten Kamillengrase, lag ein riesiges Tier ausgestreckt, so groß, wie Aurel noch nie eins gesehen hatte. Indrik hielt die Stallaterne in der Hand, und der gelbe Schein wanderte über einen mächtigen Rücken, über ein dunkelbraunes Fell, lange, schmale weiße Beine und einen gewaltigen merkwürdigen Kopf, mit gebogener Rammsnase, großen Ohren und spitzen Hörnern.
Mickel, der Buschwächter, hockte auf dem Tier und erzählte aufgeregt, wie und wo der Elch gelaufen war und wie der Vater ihn geschossen hatte. Er tastete mit den blutigen Händen das Fell ab, bohrte den Zeigefinger tief in ein schwarzes Loch, hob den schweren Kopf am Geweih, ließ ihn dumpf auf den Erdboden fallen, öffnete das riesige Maul, zerrte an der blauroten Zunge und zeigte die gelben Zähne. Und Waldi, Sagrei und Schamyl, die Jagdhunde, schnüffelten mit wedelnden Schwänzen und hängenden Zungen am toten Tier.
In dieser Nacht hatte Aurel einen furchtbaren Traum. Aus der Allee kam ein riesiger Elch gelaufen, so groß, daß er mit dem Geweih an die Äste des Ahorns stieß. Aber er lief nicht auf dem Weg um den runden Rasenplatz, sondern geradeaus über das Gras auf das Haus los. Er lief und lief, mit gesenkten Hörnern, und seine kleinen schwarzen Augen starrten mit bösem Blick auf Aurel, der vor der Veranda stand. Aurel wollte ins Haus laufen, aber er konnte sich nicht rühren, nicht einmal den Kopf zur Seite wenden, und der Elch kam immer näher. Schon hörte er ihn schnaufen, schon sah er seine großen gelben Zähne.
Aber dann war es plötzlich Grischa, der Apfelrusse, der über den Rasenplatz auf ihn zuging, und auch Grischa war so groß, daß er mit seiner Fellmütze an die Zweige des Ahorns stieß. Und sein Schafspelz verdeckte die ganze Allee, seine Pumphosen waren so breit wie der Platz, und seine faltigen Wasserstiefel zerstampften den Rasen. In der Hand hielt er aber einen roten Apfel, und er lachte mit seinen gelben Zähnen und fragte: „Jabloko, chotschesch Jabloko?“
Jetzt aber war es der Verrückte, der über den Rasen kam, mit seinem schwappenden, flachen Strohhut, den zerlumpten Hosen. Lallend schwang er seinen Stock, starrte mit bösem, verblödetem Blick auf Aurel und lief auf ihn zu. Und von allen Seiten kamen grunzende Schweine angerannt, wühlten den Rasenplatz mit ihren Rüsseln auf und zertrampelten das Gras. Aber plötzlich waren alle Schweine Wölfe geworden, mit aufgerissenen Rachen und hungrigen Augen. Auch der Verrückte trug ein Wolfsfell, und als er seinen Mund öffnete und seine blaurote Zunge und die gelben Zähne zeigte, war sein Maul so groß wie der Rachen des Elches.
Und jetzt wußte Aurel: es war der Wolfsmensch, der über den Rasenplatz auf ihn zukam, der Wolfsmensch, der Mila geholt hatte und der nun auch ihn fressen wollte. Und der Wolfsmensch und die heulenden Wölfe kamen immer näher – schon spürte Aurel ihren schnaufenden Atem im Gesicht …
Mit einem Schrei wachte der Junge auf. Minka, die Katze, saß schnurrend auf seiner Brust. Er zitterte am ganzen Körper und konnte sich nicht beruhigen.
„Warum träumst du so verrücktes Zeugs“, schalt ihn Fömarie, steckte sich Watte in die Ohren und drehte sich auf die andere Seite.
Aber Aurel lag noch lange wach, preßte die Katze an sein hämmerndes Herz und starrte mit kaltem Entsetzen in die unbarmherzige Finsternis. Endlich schlief er ein.
Die Linden werden kahl, der Wind fegt durch die Allee, manchmal wirbelt schon etwas Weißes in der Luft. Die Oleander stehen wieder im Saal vor den zur Seite gerafften Fenstergardinen; in den Kachelöfen knallen die Birkenscheite, und zwischen den Doppelfenstern liegen bunte Strohblumen auf weißem Moospolster. Und Fömarie trägt dicke, grauwollene Unterwäsche.
Aurel weiß das ganz genau. Wenn Fömarie am Morgen aufsteht, kommt sie jedesmal an sein Bett. Dann hat er die Augen geschlossen. Wenn sie sich aber wäscht und anzieht, schielt er heimlich zwischen den Gitterstäben zu ihr hinüber. Und da sieht er merkwürdige Dinge: Haare unter den Armen und komische Hängesäcke an der Brust. Dann stopft sie alles in graue Wolle, schnallt sich einen Panzer mit Eisenstangen herum (Aurel hat ihn einmal, als er auf dem Stuhl lag, genau untersucht) und stülpt sich die vielen Röcke über den Kopf. Welch ein Glück, daß man ein Junge ist.
Und dann, an einem grauen Regentag, kommt Schlunski. Sein gelber Klepper mit dem vollgepackten, von einem Schutzleder überzogenen Wägelchen hält vor der Küchentür, und in der Backstube auf der Mehltruhe breitet er seine Schätze aus: geblümte Kattunballen, rote Sacktücher, Haarspangen, glitzernde Broschen, funkelnde Diamantringe, Mundharmonikas und viel bunte Glasperlen.
Die schwarze Tina, Karlin, Liese, die alte Minna, Janz, der aufgeregte Mickel, Marz, Rosalia vom Viehstall, alle Mädchen vom Hof, ja sogar Trulla, die dicke Verwaltersfrau, drängen sich in der Backstube, kichern, schwatzen und feilschen. Und Schlunski, mit seinen ausgefransten Peissacken, dem dicken schwarzen Kaftan und dem komischen Mützchen auf dem Kopf, steht wie ein König da und verteilt seine Reichtümer. Ja, er schenkt wirklich Aurel eine kleine Mundharmonika, und Adda bekommt bunte Glasperlen, und beide sind so glücklich, daß sie wortlos dastehen und den fremden Mann wie den lieben Gott anstaunen.
Auch später, als der liebe Gott in der Gesindestube zu Mittag ißt, sehen sie ihm heimlich zu. Es gibt Klöße mit Heidelbeersoße. Und als Schlunski gegessen hat, wischt er sich schmatzend den Mund und sagt laut:
„Klümpchen mit Schwarzbeeren schmecken gut!“
Aurel läuft ins Speisezimmer, wo die Großen noch am Tisch sitzen, und verkündet laut:
„Klümpchen mit Schwarzbeeren schmecken gut!“
Adda rennt aufgeregt hinter ihm her und wiederholt immer wieder:
„Klümpchen mit Schwarzbeeren schmecken gut!“
Bis Fömarie es verbietet. Jetzt können sie es nur heimlich ganz leise sagen, aber gerade dadurch bekommen diese Worte einen besonderen Reiz, und jedesmal, wenn es seitdem Klöße mit Heidelbeeren gibt, stoßen sich die Kinder unter dem Tisch an und flüstern:
„Klümpchen mit Schwarzbeeren schmecken gut!“
Aber noch besser schmecken die heißen, frischgebackenen Pfefferkuchen, die Marzipanplätzchen, Eierbiskuits und Schmantbonbons, die an den Zähnen so kleben. Immer gibt Karlomchen etwas zum Probieren, den ganzen Tag wird in der Backstube geknetet, der Teig auf einem Brett flachgerollt, werden lange schwarze Pfannen in den glühenden Ofen hinein- und herausgeschoben. Aurel und Adda dürfen das Brett mit Mehl bestreuen und den Pfefferkuchenteig mit Blechformen ausstechen: aus der toten braunen Masse entstehen Hasen, Hähne, galoppierende Pferdchen, Sterne und Herzen. Und auf jedes Herz wird in der Mitte eine weiße Mandel gedrückt.
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