1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Buffons Vorgehensweise war schlau, denn indem er jeden biblischen Tag in eine Epoche von unbestimmter Dauer verwandelte, schuf er den Raum und die Zeit, den die Geologen benötigten, um eine authentische Geschichte der Erde entwickeln und dabei gleichzeitig die Heilige Schrift respektieren zu können. Es war das Werk von Buffon und anderen Denkern wie ihm, Usshers präzise Datierung der Erdentstehung auf 4004 vor Christus als ein Totem sklavischer biblischer Auslegung zu entlarven. *Nachdem nun die Vergangenheit der Erde nicht mehr auf 6000 Jahre begrenzt wurde, war es fortan möglich, auf systematischere Weise Vermutungen aufzustellen, welche Veränderungen in größeren Zeiträumen möglich gewesen wären. Die Geologie konnte zur Wissenschaft werden und sich mit dieser neuen alten Erde selbst definieren. Und sie war dabei gleichzeitig gegen den Vorwurf der Blasphemie abgesichert.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten sich jene Denker, die sich für die Entstehungsgeschichte der Erde interessierten, in zwei Schulen mit unterschiedlichen Lehrmeinungen aufgesplittet, in die Anhänger der Kataklysmen – oder Katastrophen-Theorie und die des Aktualismus. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Geologen des späten 19. Jahrhunderts, besonders aber Charles Lyell (1979–1875), zu Übertreibungen neigten, wenn sie darauf eingingen, wie sehr sich die Anhänger der beiden Lehrmeinungen intellektuell bekämpft haben. Dabei ist von Bedeutung, dass die Fronten zwischen ihnen, trotz ihrer unterschiedlichen Ansichten, nie klar abgesteckt wurden.
Die Anhänger der Katastrophentheorie glaubten, dass die Entstehungsgeschichte der Erde von größeren geophysischen Revolutionen bestimmt war – von einer oder vielen »Götterdämmerungen« in der Vergangenheit, welche die Erde mit Wasser, Eis und Feuer heimgesucht und dabei fast jegliches Leben ausgelöscht hatten. Die Erde war demnach ein Friedhof, eine Nekropolis, in der unzählige, jetzt ausgestorbene Arten begraben sind. Hochwasser, globale Tsunamis, schwere Erdbeben, Vulkane, Kometen – Katastrophen wie diese hatten die Oberfläche der Erde erschüttert und bis zu ihrer aktuellen Form gebracht. Eine populäre Theorie des Kataklysmus über die Gebirgsbildung ging etwa davon aus, dass die Erde, die seit ihrem weißglühenden Ursprungszustand abkühlte, langsam an Volumen verlor und ihre Oberfläche in der Folge immer stärkere Falten bekam – genauso wie die Haut eines Apfels schrumpelig wird, wenn er austrocknet. Die Gebirgsmassive der Welt waren folglich nichts anderes als die Falten und Runzeln der irdischen Haut.
Die Gegentheorie zu dieser Vision von den gewalttätigen Vorfällen in der Entwicklungsgeschichte der Erde wurde von den Aktualisten propagiert. Sie hielten dagegen, dass die Erde nie von globalen Katastrophen heimgesucht worden sei. Erdbeben, Vulkane, Überflutungen, ja, zweifellos hatte es diese Phänomene in der Erdgeschichte immer wieder gegeben. Dabei handelte es sich jedoch nur um lokale Katastrophen, welche die Landschaft nur in der Umgebung zerstört und neu geordnet hatten. Gewiss war die Oberfläche der Erde drastischen Veränderungen unterworfen worden – der Beweis dafür war in jedem Gebirgsmassiv oder an jeder Küstenlinie zu erkennen. Diese Veränderung war jedoch erstaunlich langsam verlaufen durch die Zug- und Druckkräfte, die auch jetzt noch an der Erdoberfläche tätig waren.
Mit genügend Zeit, so argumentierten die Aktualisten, konnten die normalen Einsatzkräfte der Natur wie Regen, Schnee, Frost, Flüsse, Meere, Vulkane und Erdbeben die größten Effekte bewirken. Was die Anhänger des Kataklysmus also als Folge eines Unglücks betrachteten, war demnach das Ergebnis eines langsamen, andauernden Bodenkriegs. Der Grundpfeiler der Aktualismus-Theorie lautete, die Gegenwart sei der Schlüssel zur Vergangenheit. Mit anderen Worten: Man kann durch die genaue Beobachtung der gegenwärtig an der Erdoberfläche ablaufenden Prozesse Rückschlüsse auf die Geschichte der Erde ziehen. Das war eine Version der Idee vom steten Tropfen, der den Stein aushöhlt: Lass einem Fluss oder Gletscher genügend Zeit, und er wird einen Berg in zwei Hälften teilen. Zeit, viel Zeit, das war es, was die Aktualisten brauchten, damit ihre Theorien der Arbeitsprozesse aufgingen. Und so datierten sie die Entstehung der Erde viel weiter zurück, als es je zuvor in Betracht gezogen worden war.
Der berühmteste unter den frühen Aktualisten, dem gewöhnlich die Vaterschaft der »Alten Geologie« zugerechnet wird, war der Schotte James Hutton (1726–1797). Hutton besaß eine intuitive Fähigkeit, physikalische Vorgänge umzukehren und Landschaften rückwärts zu lesen. Wie alle Begründer der Geowissenschaft war Hutton ein begeisterter Wanderer und zog jahrzehntelang kreuz und quer durch das schottische Hochland, wobei er versuchte, durch eine Mischung von Induktion und Imagination die Prozesse zu erahnen, die diese Landschaften in ihren gegenwärtigen Zustand gebracht hatten. Während er mit dem Finger über den weißen Quarz strich, der die grauen Granitblöcke in den engen schottischen Glens durchzog, wurde Hutton klar, was einst beim Aufeinandertreffen dieser beiden Felsarten geschehen war: Er »sah« wie der durch unglaublich hohen Druck geschmolzene Quarz sich seinen Weg in die Schwachstellen des Muttergesteins Granit gesucht hatte. Hutton zu folgen bedeutete, in einer Welt mit einer furchterregend weit zurückreichenden Vergangenheit zu leben. John Playfair, einer seiner Kollegen und Bewunderer, beschrieb in einem berühmt gewordenen Bericht, wie er einmal zusammen mit Hutton eine geologische Fundstätte an der Küste von Berwick besuchte. Als Hutton die Bedeutung der Felsstruktur erklärte, schrieb Playfair, war ihm, als »würde der Verstand von Schwindel ergriffen, weil er so tief in den Abgrund der Zeit hinabsah«.
Zwischen 1785 und 1799 erschien Huttons Opus Magnum Theory of the Earth in drei Bänden: ein Destillat seines jahrzehntelangen Nachsinnens über die Entstehung der Landschaft. Darin stellt er die These auf, dass die Erde, so wie wir sie kennen, nur eine Momentaufnahme in einer Reihe von Zyklen unbekannter Zahl ist. Die offensichtliche Dauerhaftigkeit von Bergen und Küstenlinien sei faktisch eine Illusion, entstanden als Folge unserer winzig kleinen Lebensspanne. Wenn wir Äonen von Jahren leben würden, könnten wir nicht nur Zeugen beim Untergang der Zivilisationen werden, sondern auch bei der völligen Umgestaltung der Erdoberfläche. Wir würden sehen, wie Berge durch Erosion vollkommen abgetragen werden und wie sich unter dem Meeresspiegel neue Landmassen bilden. Erodiertes Geröll der Kontinente, das als Sedimentschicht auf dem Meeresgrund abgelagert wurde, würde durch die Hitze des Erdkerns in Gestein umgewandelt und Jahrmillionen später emporgehoben werden, um neue Kontinente und neue Gebirgsmassive zu bilden. Das war der Grund, so Hutton, dass man im Gestein auf Berggipfeln versteinerte Muscheln finden konnte. Nicht etwa, weil sie von der Sintflut dorthin gespült worden wären, sondern weil sie durch die unerbittlichen, langwierigen Prozesse der Erde vom Meeresboden bis zur Bergspitze hochgehoben wurden.
Hutton grenzte das Alter der Erde nicht ein. Seiner Vision zufolge reichte die Erdgeschichte unendlich weit in die Vergangenheit zurück und erstreckte sich unendlich weit in die Zukunft. Der Schlusssatz seines Buches sollte durch die Jahrhunderte hallen: »Das Ergebnis unserer gegenwärtigen Untersuchungen ist, dass wir keinen Hinweis auf einen Anfang haben – und keine Aussicht auf ein Ende.« Diese undefinierte Ausdehnung der Erdgeschichte war der wichtigste Beitrag der Geologie auf die Vorstellungen der Allgemeinheit.
Welchen Einfluss hatte diese geologische Revolution auf das Bild, das man sich von den Bergen machte? Nachdem die Geologen gezeigt hatten, dass die Erde Millionen von Jahren alt ist und immensen Veränderungen unterworfen war und noch immer ist, konnten die Berge nie mehr so betrachtet werden wie zuvor. Plötzlich wurde diesen Sinnbildern der Beständigkeit eine aufregende und verblüffende Wandlungsfähigkeit zugesprochen. Die Berge, die so beständig und zeitlos wirkten, hatten sich in Wirklichkeit über unzählige Jahrtausende hinweg gebildet, verformt und wieder neu gebildet. Ihr gegenwärtiges Erscheinungsbild war nur eine Phase im unendlichen Kreislauf von Erosion und Gebirgsbildung, der die Gestalt der Erde prägte.
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