1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Eine neue Generation von Bergsteigern wurde von den gespenstischen Landschaften angezogen, die sich bei der Untersuchung durch die Geologen plötzlich aufgetan hatten. »Was ich so klar wie nie zuvor erkannte«, schrieb 1780 Horace-Bénédicte de Saussure, der Genfer Naturwissenschaftler, »das war das Grundgerüst all dieser großen Berge, ihre Beziehung zueinander und deren wahre Struktur, die ich schon früher so gerne verstanden hätte.«
Die Geologie schuf einen Grund und eine Entschuldigung dafür, in die Berge zu reisen, nämlich die wissenschaftliche Untersuchung.
Ein Gefühl der Neugier, welches das natürliche Interesse weit übersteigt, bringt Reisende aus allen Teilen Europas dazu, den Montblanc aufzusuchen, den höchsten Punkt der Alten Welt, um dort die Gletscher der Umgebung zu erforschen,
stellte ein englischer Journalist 1801 fest.
Diese Orte haben seit Kurzem ein neues Maß an Interesse hervorgerufen – Geologen, Mineralogen und reine Amateure begeben sich mit Begeisterung dorthin. Und sogar Frauen werden durch das Vergnügen beim Anblick von Dingen, die völlig neu für sie sind, weitgehend für die Anstrengungen der Reise entschädigt.
»Strata Types«, das Frontispiz zu Humphry Davys Elements of Agricultural Chemistry (1813), zeigt die verschiedenen Gesteinsschichten, die die Geologie sichtbar gemacht hatte.
Die Berge anzuschauen bedeutete nun auch, in sie hineinzusehen und sich ihre Vergangenheit vorzustellen. Der englische Wissenschaftler Humphry Davy brachte es 1805 auf den Punkt:
Für denjenigen, der geologische Untersuchungen anstellt, bietet jede Bergkette erstaunliche Denkmäler der großen Veränderungen, denen der Globus unterworfen war. Die erhabensten Vermutungen werden geweckt, die Gegenwart bleibt unbeachtet, vergangene Zeitalter rücken in den Vordergrund. Und der Verstand verliert sich in Bewunderung angesichts der Gestaltung dieser großen Kraft, die jene Ordnung herbeiführte, die auf den ersten Blick nur ein wildes Durcheinander zu sein scheint.
Hier kam also eine andere Form von Schwindelgefühl zu jener bekannteren Form hinzu, die einen an einem steilen Berg überkommen kann: die, welche durch eine lange Vergangenheit hervorgerufen wird. Wie Burnet schon im Jahrhundert zuvor angedeutet hatte, war das Bergsteigen zu einer Erfahrung geworden, bei der man sich nicht nur im Raum nach oben bewegte, sondern auch rückwärts durch die Zeit.
James Hutton mag der Vater der Geologie gewesen sein, aber er war keinesfalls deren elegantester Repräsentant. Abgesehen von seinen klangvollen Schlusssätzen war Huttons Theorie in einer Prosa verfasst, die so eintönig und undurchschaubar war wie der Old Red Sandstone an der schottischen Küste, auf den er so stolz war. Es würde noch dreißig Jahre dauern und einen anderen legendären Geologen erfordern, bis die raschen Fortschritte der Geologie und die atemberaubenden Berichte darüber richtig populär werden und noch mehr Menschen in die Berge locken sollten. Noch mehr als Burnet oder sogar Hutton war der schottische Geologe Charles Lyell verantwortlich dafür, dass sich die sprachlichen Begriffe und die Vorstellungen der Geologie im 19. Jahrhundert verbreiteten.
Charles Lyell war Rechtsanwalt, bevor er zum Geologen wurde, und seine forensische Ausbildung hatte ihm zu einem Schreibstil von extremer Klarheit und Eleganz verholfen. Zwischen 1830 und 1833 veröffentlichte er die drei Bände von The Principles of Geology: an Attempt to Explain the Former Changes of the Earth’s Surface by Reference to Causes Now in Operation , ein Werk, das sorgfältig und kurzweilig die Argumente der Aktualisten darlegte, dass das Studium der Gegenwart der Schlüssel zur Vergangenheit sei. Die Principles wurden rasch zur Pflichtlektüre des Bildungsbürgertums seiner Zeit und vielfältig übersetzt. Bis 1872 wurden elf überarbeitete Ausgaben veröffentlicht.
Lyells Brillanz lag in erster Linie in seiner Zuordnung von Details. Genauso wie Charles Darwin es in seinem 1859 erschienenen Werk Über den Ursprung der Arten durch natürliche Selektion getan hatte, konnte Lyell seine Zuhörer mit einer Kombination aus unwiderlegbaren Fakten – diesbezüglich ähnelte seine Schrift dem Prozess, den sie beschrieb – und erläuternden Anekdoten für sich gewinnen. Eine große Anziehung ging auch davon aus, dass das Wissen, das Lyell in groben Zügen skizzierte, etwas Demokratisches hatte: Man benötigte keine spezielle Ausrüstung oder lange Schulung, um die Geschichte der Erde entziffern zu können, sondern nur ein Paar scharfe Augen, einige grundlegende Kenntnisse über die Prinzipien des Aktualismus sowie genügend Neugier und Mut, um über die Kante in den Abgrund der Zeit hinabzuschauen. Jeder, der diese minimalen Qualifikationen besaß, konnte die aufregendste Vorführung der Erde besuchen: die ihrer Vergangenheit.
Um uns vor Augen zu führen, wie diese neue Art der Betrachtung der Berge in der Praxis aussieht, gehen wir zurück ins Jahr 1835 und in die Stadt Valparaiso, die sich entlang der pazifischen Küste von Chile erstreckt. Der Name der Stadt bedeutet »Paradiestal« und es hätte kaum ein Name gefunden werden können, der schlechter gepasst hätte als dieser. Zum einen liegt die Stadt nicht in einem Tal, sondern auf einem schmalen, annähernd horizontalen Landstrich zwischen den Wellenkämmen des Pazifiks und dem steilen roten Felsmassiv hinter der Stadt. Und paradiesisch ist sie ganz bestimmt nicht. Der ablandige Wind, der hier ständig über die Oberfläche fegt, das steile Gelände und der salzhaltige Boden sorgen dafür, dass es keine nennenswerte Vegetation gibt. Abgesehen von den Menschen, die sich in kleinen Ansammlungen von eng aneinandergeschmiegten, niedrigen weiß-getünchten Häusern mit roten Dachziegeln in den Flussläufen und Schluchten angesiedelt haben, findet man hier wenig Leben.
An der Küste schaukeln reihenweise Ruderboote im Wasser, jederzeit einsatzbereit, um die großen Schiffe zu versorgen, die draußen in den tieferen Gewässern vor Anker liegen. Allem Anschein zum Trotz ist Valparaiso nämlich Chiles bedeutendster Überseehafen. Und über diese ganze Szene streicht die klare, trockene Sommerluft der Küste.
Am 14. August 1835 bricht Charles Darwin von hier auf dem Rücken eines Pferdes zu einem langen Ausflug ins Hinterland der Anden auf. Draußen in der Bucht ankert sein Schiff, die mit zehn Kanonen ausgestattete Brigg »Beagle«, auf der er als wissenschaftlicher Beobachter tätig ist. Während Darwin in Cambridge studierte, interessierte er sich auch für Geologie und packte, bevor er an einem wilden, stürmischen Abend im Dezember 1831 von Devonport aufbrach, um gen Süden zu segeln, den ersten Band von Lyells Principles als Lektüre für die lange Seereise nach Südamerika ein. Er überprüfte Lyells Theorien während eines Landgangs auf den Kapverdischen Inseln, und als man von der Beagle schließlich erstmals die Tiefebenen Patagoniens erblickte, war Darwins Vorstellungskraft bestens gerüstet, um die Landschaftsformen, auf die er dort stieß, mit Lyells Begriffen interpretieren zu können – und aus der aktuellen Gestalt auf eine lange Vergangenheit zu schließen. »Mir kommt es stets so vor, als ob meine Bücher zur Hälfte aus Lyells Gedanken bestehen«, schreibt er später seinem Freund Leonard Horner,
denn ich dachte immer, der große Verdienst der Principles liege darin, dass dieses Buch die ganze Denkweise veränderte und man deshalb, selbst wenn man etwas sah, das Lyell nie gesehen hatte, es doch zum Teil mit seinen Augen sah.
Читать дальше