Sogar an Silvester gingen wir vor Mitternacht ins Bett, wozu aufbleiben? Ich durfte aber Radio hören, bis um zwölf Uhr die Pummerin vom Stephansdom ins Land läutete und der Donauwalzer erklang. Da liege ich also im Bett, während dort in Wien bildschöne Frauen in wunderschönen Ballkleidern in den Armen eleganter Männer zur inoffiziellen österreichischen Hymne tanzen. Da liege ich im Bett und bin nicht dabei – und niemals würde ich dabei sein. Ich werde sentimental und weine ein bisschen. Nach dem Donauwalzer erscheint meine Mutter im Nachthemd, sagt Prost Neujahr und schaltet mir das Radio aus. Jetzt lieg ich im Finstern, und während die Schönen und die Reichen weiter durch die festliche Neujahrsnacht tanzen, schlafe ich ein – schlaf ein …
Als wir später den Fernseher im neuen Wohnzimmer hatten (die Familie Trappl war ausgezogen und wir hatten uns räumlich ausgedehnt), feierten wir (meine Eltern und ich, die Großeltern und Frau Lauri, eine Bekannte) Silvester im Halbkreis um diese Attraktion. Wir tranken Russischen Tee mit Stroh-Rum und aßen Russische Eier auf Endiviensalat. Um Mitternacht beim Donauwalzer stießen wir mit einem Glas Sekt an, danach gingen unsere Gäste heim und wir ins Bett. Am ersten Januar aßen wir zum Frühstück am späteren Vormittag wieder Russisches, nämlich die Russen, das sind sauer eingelegte Heringe. Wir aßen sie als Mittel gegen den Kater, weil wir nachts ja ein Glas Sekt getrunken, und meine Eltern davor schon ein Glas Wein und einen Obstler.
Mit Silvester wurde die Faschingszeit und die Ballsaison eröffnet, und meine Eltern besuchten jedes Jahr mindestens einen Ball. Sie konnten mich jetzt mit den Großeltern im Haus ja bedenkenlos allein lassen.
Am Vormittag des Balltages ging meine Mutter zum Frisör, zur Frau Erna. Frau Erna war eine stattliche Person, vollschlank und sehr dunkel, mit schwarzen Locken, einem Bartflaum über der Oberlippe und Haaren an den hohen Bei-nen unter den Seidenstrümpfen mit Naht. Igitt! oder wööaa! wird sich jetzt der eine oder die andere denken, doch glauben Sie mir, liebe Leser, das ist Gewohnheitssache. Die heute angestrebte Ganzkörper-Haarlosigkeit bei Erwachsenen hätte man eher mit der rosaroten Nacktheit eines Hausschweins denn mit menschlicher Schönheit in Verbindung gebracht. Nur Haare auf den Zähnen fand man abstoßend, um eine damit Ausgestattete machte man lieber einen Bogen. Frau Erna wurde als rassig bezeichnet, sie hatte Sex-Appeal, wie man später im Zuge der Amerikanisierung unserer Sprache sagte. Sie war ein Augenschmaus, wenn sie in der Aura einer gewissen Distinguiertheit stolz einherschritt; und wenn sie mit samtiger Stimme sprach, war dies ein Ohrenschmaus und eine reizvolle Alternative zum harmlosen Zwitschern der Blondgelockten in den Filmen.
Nachdem die Haare meiner Mutter gestylt waren, eilte sie nach Hause und wärmte das Vorgekochte auf. Nach dem Essen hielten meine Eltern einen Mittagsschlaf, ein Vorausschlaf sollte das sein. Danach tranken sie echten Bohnenkaffee und meine Mutter legte die Ballkleidung zurecht, dabei gab es einiges zu besprechen. Zwar war die Auswahl nicht groß, aber ein paar Varia-tionen waren möglich: Welcher Selbstbinder (Krawatte), welches Hemd – das eine ist ein bisschen zu klein und das andere ist ein bisschen zu groß –, das schwarze Kleid oder der schwarze Rock mit der weißen Bluse, welche Halskette? Man wird es kaum glauben, aber sie diskutierten oft lange. Nach dem Abendessen rasierte sich mein Vater und meine Mutter schminkte sich: Augenbrauenstift und Lippenstift, Rouge für die Wangen und Puder für die Nase, damit diese in der Hitze des Balles nicht zu leuchten begänne. Zum Schluss tupfte sie sich etwas Tosca hinter die Ohren. Dann kleideten sie sich an. Um halb acht kamen T.Resa und Onkel F., auch schwarzweiß gewandet, um sie abzuholen. Und bevor sie nach Ermahnungen an mich, nicht zu lange aufzubleiben, feierlich gestimmt loszogen, genehmigten sie sich ein Stamperl Schnaps im Stehen.
Irgendwann wollte mein Vater nicht mehr mit T.Resa und Onkel F. auf den Ball gehen, das heißt eigentlich mit T.Resa wollte er nicht mehr. Zur Vermeidung des gemeinsamen Ballbesuchs produzierte er Kopfweh Magenweh Knieweh und dergleichen mehr Weh. Es war nämlich auf dem letzten Sängerball Folgendes passiert: Mein Vater tanzte mit T.Resa eine Polka, und während sie sich schwindlig drehten, habe meine Tante auf einmal laut Juchhu gerufen und meinen Vater wie toll ins Kreisrund gerissen, fast seien sie gestürzt. Mein armer Vater, ein krebsroter, von T.Resa gepeitschter Kreisel, wollte in den Boden versinken. Aber T.Resa, nun voll in Führung, habe noch einmal gejauchzt, schamlos in die staunende Hautevolee hinein – wohlhabende Geschäftsleute, Ärzte und Rechtsanwälte mit ihren Gattinnen. Die Gattinnen hätten pikiert geschaut (Was für ein Weib!) und die Männer grinsend (Was für ein Weib!). Da hat mein Vater beschlossen, nie mehr mit seiner Schwägerin zu tanzen. Aber freilich, bei einem gemeinsamen Ballbesuch hätte er dies als seine Pflicht angesehen; und selbst, wenn es ihm gelungen wäre, sich davor zu drücken, hätte sie ihn bestimmt bei der Damenwahl erwischt – so eine war das. Lieber also nicht mehr auf den Ball mir ihr, denn die Zähmung dieser widerspenstigen Tänzerin traute er sich nicht zu.
Diese Geschichte hat mir meine Mutter erzählt, und sie hat sie folgendermaßen kommentiert: Es stimme schon, dass die Tante tänzerisch zuweilen etwas wild werde und auch, dass sie vor Vergnügen jauchze, aber wenn mein Vater glaube, alle würden zu ihnen hinschauen und darüber reden, täusche er sich. Am Ball sei dermaßen ein Lärm und ein Gedränge, da wisse niemand so genau, wer gejauchzt hat; und dass ein Paar zu fortgeschrittener Stunde überdreht tanzt, sei üblich und nichts Besonderes. Ein paar werden halt geschaut haben, na und?
Die Stunde vor dem Abendessen, der Vorabend, war besonders im Herbst und im Winter meiner Mutter Nähstunde, und ich saß bei ihr. Wenn mein Vater im Schwimmbad (Hallenbad) oder allein auf Stadtrunde oder unten bei seinen Eltern war, gehörte diese Stunde uns beiden allein und meine Mutter erzählte mir, wie sie das schon im Feenthal getan hatte, gerne Geschichten von Seinerzeit.
Nicht selten höre ich Geschichten mehrmals, ganz gleich aber nie – meine Mutter variiert, schmückt aus, fügt neue, mir bis dahin unbekannte Details hinzu, verschiebt Handlungsschwerpunkte. Bei der Ballgeschichte etwa variiert sie die Anzahl der Jauchzer und die Größe der Gefahr, dass die beiden, mein Vater und die Tante, tatsächlich hingefallen wären. Sie erzählt mir von den Streitigkeiten ihrer Eltern, besonders eine Geschichte erzählt sie öfters, sie findet wohl, ich bin jetzt alt genug für diesen Schlag in die gemütliche Erzählstunde. Die Geschichte geht ungefähr so: Nach Entsorgung der beiden kleineren Schwestern zur Urgroßmutter sei sie, meine Mutter, von ihrer Mutter, meiner späteren Oma Rosa, zu einer Nachbarin mitgenommen und dort zurückgelassen worden – die Mutter müsse etwas erledigen. Meine Mutter half der Nachbarin ein wenig bei der Hausarbeit und spielte mit deren klei-ner Tochter. Nach gut zwei Stunden kam ihre Mutter zurück, trank mit der Nachbarin schnell einen Kaffee im Stehen und machte sich dann mit der Tochter schnellschnell auf den Heimweg. Unterwegs mussten ja noch die kleinen Schwestern abgeholt werden. Inzwischen aber war die flotte Resi der Urgroßmutter entwichen und nach Hause gelaufen. Ihr Vater, mein späterer Opa K., der nicht wusste, wem sie davongelaufen war, weil die Resi das nicht so genau sagen konnte, nahm sie an der Hand und ging seine Ehefrau suchen.
Sie begegneten sich mitten auf der Gasse, der Vater mit einem Mädchen an der Hand und die Mutter mit einem Mädchen an der Hand. Feindselig standen sie einander gegenüber. Meine Mutter vorab instruiert zu bezeugen, dass sie und ihre Mutter den ganzen Nachmittag über gemeinsam – ja, gemeinsam bei der Nachbarin gewesen seien, stellte sich vor Aufregung ungeschickt an: Sie schrie das Zeugnis angesichts des Vaters sofort ungefragt heraus und sie heulte dabei. Durch dieses ihr Verhalten erhärtete sich des Vaters Verdacht gegen seine Ehefrau. Und da passierte es: Der Vater gab der Mutter eine Ohrfeige – mitten auf der Gasse. Dann drehte er sich um und ging davon, die Resi ließ er zurück. Jetzt heulten sie heimzu, die Mutter und ihre beiden Töchter; die Resi heulte, weil ihre Mutter und die große Schwester (meine Mutter) heulten. Zu Hause hatte das Familienoberhaupt vor Zorn die Tür hinter sich zugesperrt, die drei mussten sich draußen herumdrücken; zur Urgroßmutter, von wo die Jüngste noch abgeholt werden musste, trauten sie sich so verheult nicht. Ein Glück, dass es Sommer war. Endlich, nach ungefähr einer Stunde verließ der Vater die Wohnung und ließ die Tür unversperrt.
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