Im Obergeschoss der Thorburg gibt es noch eine dritte Wohnung, sie liegt, wenn man die Treppe hochkommt, gleich geradeaus. Sie besteht wie die der unechten Familie und die der Kathi im Erdgeschoss und die der Eheleute Steiner im Kellergeschoss und die der Großtante im Dachboden aus einem einzigen Raum; wir, die Großeltern und die Familie Trappl sind im Vergleich dazu flächenmäßig privilegiert. In diesem einzigen Raum, der Küche Esszimmer Wohnzimmer Schlafzimmer Bad ist, wohnt ein kinderloses Ehepaar, der ehemalige Kleidermacher O. und seine Frau. Herr O. hat einen voluminösen Schnauzer wie mein Großonkel Peter und im Mund eine Pfeife wie mein Opa K., und wie diese beiden schmunzelt er, wenn er mich sieht.
Dieses Schmunzeln alter Männer, gibt es das heute noch? Mir kommt vor, ich habe so ein Schmunzeln und dazu den verschmitzten Blick aus meist schon ziemlich versteckten Augen lange nicht mehr gesehen. Das könnte freilich daran liegen, dass es vor allem ein Geschenk an Kinder und junge Leute ist – ich meine ganz junge Leute, nicht solche wie ich. Es könnte aber auch daran liegen, dass so ein Schmunzeln einen gelassenen Ruhezustand des Produzenten voraussetzt. Der Schmunzler sitzt oder steht oder spaziert gemächlich dahin und schaut sich um. Heute, die älteren Herren, die joggen, fahren mit dem Rad, strampeln auf dem Hometrainer, ertüchtigen sich. Da bleibt wenig Muße zum Schauen und zum Schmunzeln.
Herr O. sitzt täglich auf dem Schemel auf dem Ortgang und schmunzelt mich an. Manchmal spricht er mich an, oder er redet mit der Katze, die auf seinem Schoß schläft, oder er sagt etwas zu seiner Frau, wenn sie bei ihm vorbeikommt. Verstehen tu ich ihn nie. Seine Wörter bleiben im Schnauzer hängen und seine Artikulation ist durch die Pfeife im Mund beeinträchtigt und vermutlich auch, weil er törisch (taub) ist. Und spindeldürr ist er wie’s Schneiderlein im Märchen. Herr O. ist von seiner Frau auf den Ortgang verbannt, sie erlaubt ihm nicht oben bei ihnen zu rauchen, außerdem sitzt er ihr dort nur im Weg herum. Ihr Wohnraum hat keine fünfzehn Quadratmeter, Gott sei Dank ist er günstig, nämlich quadratisch, geschnitten. Es steht darin, was sie unbedingt brauchen: ein Herd, in dem täglich eingeheizt wird, weil frau darauf kocht, ein Tisch und zwei Stühle, ein Kasten fürs Gewand und eine Kredenz fürs Geschirr.
Einmal bekam das Ehepaar O. eine neue gebrauchte Kredenz geschenkt, sehr gut erhalten. Die Frau vom O. konnte sich aber nicht von der alten trennen, die war ja noch gut. Deshalb standen fürderhin zwei Kredenzen nebeneinander. Das ging? Ich kann es mir nicht mehr recht vorstellen, obwohl ich es mit eigenen Augen gesehen habe; nicht gesehen habe ich, was in die zweite Kredenz hineingeräumt wurde. Vielleicht Schuhe, denn einen Schuhschrank haben sie nicht, brauchen sie nicht für ihre zwei bzw. vier Paar Schuhe. Jahr-aus jahrein tragen sie hohe Schnürschuhe und zu besonderen Anlässen ihre guten Halbschuhe, die die übrige Zeit säuberlich geputzt und in Schachteln verpackt unter den Betten stehen, zumindest dort gestanden sind bis zum Einzug der zweiten Kredenz.
Das Ehepaar O. ist im Shabby Chic-Stil eingerichtet: Jedes Möbelstück ist von Hand gefertigt und hat seine eigene Geschichte. Und weil nichts so richtig zusammenpasst, passt es wieder – sie haben’s gemütlich; und schlank, wie sie sind, können sie die engen Pfade durch ihre Möbellandschaft begehen ohne anzuecken.
Bücher? Haben sie Bücher? Bestimmt, mindestens drei: ein Gebetbuch, denn die Frau vom O. ist eine emsige Kirchengängerin, ein Doktorbuch, Der Hausarzt oder so ähnlich, und ein Kochbuch. Letzteres hat die Frau vom O. zur Hochzeit geschenkt bekommen und ungefähr einmal im Jahr schaut sie hinein. Zusätzlich, als Lesestoff für abends im Bett, hat sie die Romanheftchen, die ihr Nachbarinnen schenken; und regelmäßig lesen sie und ihr Gatte die Wochenschau – immer die von der Vorwoche, die meine Großmutter an sie weitergibt.
Das Ehepaar O. hat auch ein Kind – ein Katzenkind, die graue Murli. Dass du dich an den Namen noch erinnerst!, wundert sich meine Freundin Margret. Aber das ist nicht schwer, denn viele Katzen hießen damals so, oder so ähnlich. Die Murli hat ihr Milchschüsserl im Vorhaus. Streicheln lässt sie sich nicht von mir, sie flieht mich, wie ich die Kathi – so gleicht sich alles aus im Leben. In die hintere Haustür ist eine Luke geschnitten, durch die kann sie kommen und gehen, wie es ihr beliebt. Nachts ist sie unterwegs, auf der Jagd nach Mäusen im Keller und in den Gärten; erwischt sie gegen Morgen einen Vogel, wird sie von meiner Mutter als Kanaille beschimpft. Wenn es ihr draußen zu kalt oder zu nass ist oder es ihr aus anderen Gründen nicht mehr passt, stellt sie sich vor die Tür ihrer Eltern und fordert jämmerlich maunzend Einlass. Dann schimpft sie mein Vater ein Mistviech. Tagsüber schläft das Murli-Mistvieh gern auf dem Schoß vom Herrn O. oder im Ehebett.
Einmal, die Frau vom O. war bereits die Witwe vom O., da schlug ihr meine Mutter bei einem Plausch am Ortgang vor, das zweite Bett doch wegzugeben, damit sie mehr Platz hätte. Nein, sagte die Witwe vom O., unmöglich, das zweite Bett brauche sie für ihren Mittagsschlaf. Das hörte sich für meine Mutter zu verrückt an und sie fragte nach. Ja, wegen der Katze, die sei es gewöhnt, um die Mittagszeit in einem Bett zu schlafen, und wenn sie nur mehr ein Bett hätte, könnte sie sich für ihren Mittagsschlaf nicht mehr lang legen.
Die Frau vom O. war bestimmt um die zwanzig Jahre jünger als ihr Mann. Wahrscheinlich war sie nicht wesentlich älter als meine Mutter, doch wirkte sie viel schwerfälliger, denn sie hatte ein komisches Gstöi (Gestell/Körperbau); allerdings war es anders komisch als das meiner Großmutter Ama.
Es ist ja so (ganz frei nach Tolstoi): Alle schönen Menschen ähneln einander (sieht man von Haar- und Augenfarben ab), jeder Nichtschöne ist dagegen auf seine eigene, ganz persönliche Art nicht schön. Schönheit liegt in einem vom Zeitgeist akzentuierten Ebenmaß, die Kategorie des Schönen ist schmal, Abweichungen davon gibt es viele. Im wirklichen Leben kann uns menschliche Schönheit faszinieren – erzählerisch gesehen gibt sie viel weniger her als Nichtschönheit.
Wie sah nun der Frau vom O. ihr komisches Gstöi aus? Sie hatte nicht Amas dünne Beine, mit denen sie geschäftig dahinschritt, sondern kräftige, die sie gemächlich am Boden entlangzog; sie hatte nicht Amas breite Hüften, sondern eher schmale, obzwar seitlich hoch aufgepolstert, und sie hatte nicht Amas zierlichen Oberkörper, sondern einen eher dominanten; und ihre besondere Besonderheit war ein imposanter Busen, der, bereits altersgerecht gesenkt, ihre Vorderfront dominierte. Ba dera, sagte mein Vater, ba dera – do dastickst (bei der, da erstickst du; nebenbei bemerkt: der Steirer verwendet statt der Vorsilbe er gern die Vorsilbe da – dasticken statt ersticken, dawortn statt erwarten, daschlogn statt erschlagen). Er meinte damit, dass man, würde man von einer so vollbusigen Frau herzlich umarmt und gedrückt, dass man dann, wenn’s dumm zuginge, mit Nase und Mund in die Furche zwischen ihre Brüste (die Alan Bennett als Elfjähriger für eine pektorale Vagina hielt) geraten könnte, und dass man, dadurch am Atmen behindert, womöglich der Gefahr des Erstickens ausgesetzt wäre. Meine Mutter spielte auf die reife Schwere des nachbarlichen Busens an, indem sie uns vorspielte, wie ihr die Frau vom O. einmal Verdauungsprobleme geschildert hatte. Meine Mutter stand auf, ließ ihre flache Hand um den Nabel kreisen und sagte, die leise raue Stimme der Frau vom O. nachahmend, es täte ihr da unter der Brust so weh.
Die Frau vom O. hat ihren Stolz, sie lässt sich nichts schenken, außer alten Zeitungen und Romanheftchen, die nimmt sie gerne. Einmal schenkte ihr meine Mutter Winterstiefel, weil sie sich selbst neue gekauft hatte, modernere. Doch die alten waren noch gut, zu schade zum Wegwerfen. Die Frau vom O. hat sie angenommen, gesehen haben wir sie nie an ihren Füßen. Vielleicht hat sie sie in eine Schachtel gepackt und unter das Bett oder in die Kredenz gestellt, falls sie sie doch einmal braucht. Meine Mutter hat das gestiert (geärgert), dass sie diese noch guten Stiefel nicht trug. Wenn sie das vorher gewusst hätte, hätte sie sie behalten, denn für Schiach wären sie noch lang gut gewesen.
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