Peter Strasser - Kleiner Sisyphos der großen Worte

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Die Grenze des Denkbaren seit Jahrzehnten auslotend, bezeichnet sich Peter Strasser gelegentlich selbstironisch als «kleinen Sisyphos der großen Worte». Er vertritt gegenüber modischen Strömungen wie Physikalismus und Dekonstruktivismus einen Primat des Geistes, wobei der Geist als das «unerreichbar Nahe, das mitten durch uns hindurchgeht», verstanden wird. Deshalb sind Philosophie und Leben von vornherein und unauflösbar ineinander verwoben. In den vorliegenden «Denkwürdigkeiten» wird dieses Ineinander episodisch entfaltet. Auf diese Weise offenbart sich das existenziell Prägende des Nachsinnens über die Realität unseres Seins und Daseins.

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Peter Strasser

Kleiner Sisyphos der großen Worte

Denkwürdigkeiten aus

dem Philosophenleben

Peter Strasser (* 1950) lehrte seit seiner Habilitation 1980 Philosophie und Rechtsphilosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz sowie seit 1999 als Gastprofessor an der Universität Klagenfurt. Er ist Autor zahlreicher, vielbeachteter Bücher und Kolumnen ( Die Presse, NZZ, Hohe Luft ). 2014 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik.

Originalausgabe VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH Freiburg - фото 1

Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBER

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.verlag-alber.de

Umschlagmotiv: www.thedoodlelibrary.de

Porträtfoto: Stefan Winkler

Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg

Herstellung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN (Print) 978-3-495-49239-0

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-495-82602-7

Inhalt

Prolog

I Wie es ist, ein Philosoph zu sein

Das richtige Falsche

Spiegelung des Ego

Offenbarung: Finis philosophiae

II Clownerien der Zeit

Bums! – Der Gottesbeweis

Auf Geisterjagd

Vom erfüllten Leben

Die virtuelle Diskussionsrunde

Was hat das alles zu bedeuten?

Ein guter alter Unbekannter

Augenseen und Rosenlippen

Allen Ernstes

Wäre es besser, nicht geboren zu sein?

Pflücke den Tag!

III Über das richtige Leben im falschen

Die einfachen Dinge des Lebens

Die Sehnsucht in uns allen

Tot, irgendwie tot

IV And now back to square one …

Eine Anfrage

Was Bildung wäre, wenn es sie gäbe

Beim Meister des wahren Wegs

Epilog

Bibliografische Notiz

Prolog

Über den Sinn des Lebens im Zeitalter der Pandemie. – Als ich eines Tages am Bett meines moribunden Philosophenfreundes saß, kamen wir auf den Sinn des Lebens zu sprechen. Wir beide wussten, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Ich erwartete, offen gestanden, kein tiefes Gespräch. Und dann geschah auch, was ich ohnehin irgendwie schon erwartet hatte:

Mein Freund erzählte mir Episoden aus seinem Leben, die ihm besonders bedeutsam zu sein schienen, um immer wieder einzunicken, weiterzuerzählen, und endlich einzuschlafen. Am Schluss meines Besuchs hatte ich den Eindruck, das sei ein Wink gewesen. Mein Freund hatte mir sein Leben erzählen wollen, sein ganzes Leben (was nicht geschah, nicht geschehen konnte). Darin steckte für ihn wohl eine Lehre für mich.

Es war, vordergründig betrachtet, ganz und gar nicht die Lehre des Ludwig Wittgenstein, der an einer Stelle in seiner berühmten Abhandlung Tractatus logico-philosophicus sagt, dass der Sinn des Lebens sinnvoll nicht anzugeben sei, weshalb diejenigen, die den Sinn ihres Lebens gefunden hätten, dann auch nicht sagen könnten, worin dieser Sinn bestünde. Die Lehre meines Freundes – wenn es eine Lehre sein sollte – lautete eher: Ich erzähle dir jetzt mein Leben, dann weißt du, worin der Sinn des Lebens besteht.

Ich habe seither immer wieder über diese – wie ich glaube – Lehre meines sterbenden Freundes nachgedacht. Wenn ich über den Sinn meines eigenen Lebens nachdachte, dann fielen auch mir zuerst gewisse prägende Episoden ein und, soweit es sich dabei um ausweitende Kreise handelte, immer weitere, ferner abliegende Lebensereignisse. Bis ich mir eingestehen musste, dass sich der Sinn meines Lebens – falls er nicht eine bloße Fata Morgana wäre – als die Tapisserie meines gesamten Daseins darstellte, durch welches sich unzählige Bedeutungsfäden zogen, die aus dem Ganzen erst ein Ganzes machten.

Der Sinn meines Lebens, das war mein Leben selbst. Was aber wohl miteinschloss, dass sich in meinem Leben mehr an Bedeutung »realisiert« haben musste, als jedes einzelne Ereignis meiner Biografie erahnen ließ. Auf die Frage, worin der Sinn des Lebens bestand, werde ich am Ende also dem, der fragt – zum Beispiel mir selbst – mit einer Erzählung meines Lebens zu antworten haben. Dass dabei, wie genau und vollständig ich auch, meiner Erinnerung gemäß, erzählen mag, noch immer ein Überschuss an Bedeutung wirksam bleibt, den auszudrücken mir nicht anders möglich wäre, als meine Erzählung fortzuführen – darin lag das Wahre an Wittgensteins Behauptung.

In jedes Menschen Leben gibt es wohl ein unerreichbar Nahes , das sozusagen mitten durch ihn hindurchgeht, ohne dass er sich nach ihm umzuwenden vermöchte. Diese intime Transzendenz eines jeden Lebens lässt in ihm das Unverlierbare, Allgemeine, Unbedingte aufscheinen.

Hier liegt einer der Gründe, warum uns die Abstraktionen der Philosophie jedenfalls immer dann nicht genügen, wenn es um existenzielle Probleme geht. Nicht, dass wir des Nachdenkens über die schwerwiegenden Fragen der eigenen Existenz und unseres Lebens in der Gemeinschaft mit anderen entbehren könnten. Aber es bleibt dabei doch ein Ungenügen. So, als ob der Begriffsraster, den wir ansetzen, zu grob wäre.

Kurz gesagt, die Philosophie hat einen Hang, ihre Abstraktionen durch die Fülle des Erzählerischen lebendig werden zu lassen. Darin liegt die unüberbietbare Faszination der großen Epiker, man denke an Homer. Aus ihren Erzählungen spricht, so scheint es, die ganze Weltweisheit zu uns. Das ist natürlich eine Illusion. Aber eine, die ernstgenommen werden sollte.

Gerade weil die Weisheit – und was wäre die Philosophie über die Zeiten hin, wenn nicht die Liebe zur Weisheit? – eine höchst allgemeine Einstellung vermittelt, bedarf sie einer Abklärung und Konkretisierung, die nicht anders erfolgen kann als durch das Moment des erzählerischen Details im Rahmen einer Geschichte, die potenziell die ganze Welt, das Sein und Dasein, umspannt.

Das alles sind weiträumige Perspektiven, die manche Philosophen schon veranlasst haben, Gedichte zu schreiben – zumeist verquälte (man denke an Martin Heidegger, der sich in die chinesische Haiku-Tradition vertiefte, die doch so leicht daherkommt). Ich bekenne, in meinen jungen Jahren von derlei Ambitionen nicht völlig frei gewesen zu sein. Was ich der geneigten Leserschaft im Folgenden zumute, ist weit weniger ambitiös.

Es ist die philosophisch mitbegründete Lebenseinstellung eines Menschen, der mit Ernst Jünger bereits sagen darf »Siebzig verweht!«, ohne allerdings einen Anspruch darauf zu erheben, die tiefen Dinge des Lebens nun besser erfassen zu können. Dennoch habe ich den Eindruck, dass die Episoden und erzählenden Reflexionen im Folgenden eine philosophische Atmosphäre schaffen, die, teils nostalgisch, teils entspannt, teils ironisch überhöht, ins Allgemeine drängt – ins Allgemeine eines Lebens, das eine Signatur hat.

*

Ich schreibe diese Zeilen im Jänner des Jahres 2021, zu einer Zeit, da die Corona-Pandemie nach einem Jahr quälender Einschränkungen nun die Politik in Österreich und Deutschland zwingt, wieder einen sogenannten Lockdown über die Gesellschaft zu verhängen. Die Philosophie hat dazu nichts zu sagen. Aber warum schwiegen die Kirchen? Sollten sie uns nicht Gottes Willen »ausdeutschen«?

Kaum einer jener Allesbesserwisser, welche die ausbleibenden kirchentheologischen Kommentare zur neuesten Pandemie polemisch kommentieren, gehört zur Gruppe der aufrichtig Betroffenen. Weder macht den meisten Kritikern die Fadenscheinigkeit religiöser Begründungsmuster zu schaffen, noch sorgt sie der Verlust heilsgeschichtlicher Motive. Doch inwiefern erwartet der moderne Gläubige, autoritativ mit »Erklärungen« versorgt zu werden, was Gott wollte, indem er uns die Geißel Covid- 19 samt Mutationen »sandte«?

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