Dietrich Plückhahn
Mein kleiner Verrat an der großen Sache
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Inhaltsverzeichnis
Titel Dietrich Plückhahn Mein kleiner Verrat an der großen Sache Dieses ebook wurde erstellt bei
Vorwort
Frontstadtimpressionen
Protest liegt in der Luft
Sag mir, wo du stehst
Auf der Suche nach der reinen Lehre
Scharfblick
Retinitis pigmentosa
Organisationsfrage geklärt
Hauptamtliche Funktionäre
Vollblutkader
Auf Delegationsfahrt
Sozialismus ohne Strahlkraft
Hoch die internationale Solidarität
Weltfestspiele mit Stasi-Begleitung
Noch näher an die Massen heran
Im Wesentlichen linientreu
Abgedriftet
Rolle rückwärts
Randnotizen
Impressum neobooks
Ein halbes Jahrhundert nach den Unruhen des Jahres 1968 gehen die Meinungen darüber, wie die damalige Studentenrevolte zu beurteilen ist, weit auseinander. Von manchen nostalgisch verklärt, von anderen pauschal verteufelt, herrscht Uneinigkeit darüber, welche Auswirkungen die „68er-Bewegung“ auf die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland im Guten wie im Schlechten gehabt hat. Mir geht es mit dem vorliegenden Buch nicht darum, einen Beitrag zu dieser Diskussion zu leisten. Es ist vielmehr mein Anliegen, den Blick auf das zu lenken, was sich im unmittelbaren Nachgang der 68er-Bewegung entwickelte. Mit ihrer in rasantem Tempo ablaufenden Zersplitterung brachte die Außerparlamentarische Opposition eine ganze Anzahl von Gruppierungen hervor, die sich den Marxismus-Leninismus auf die Fahnen geschrieben hatten. Im Zuge dieser Entwicklung bekamen neben den förmlich aus dem Boden schießenden maoistischen Gruppierungen auch die traditionellen, am sowjetischen Muster orientierten Organisationen vorübergehenden Auftrieb. All diesen Parteien, Gruppen und Grüppchen, auch den wenigen trotzkistischen Zirkeln, war gemein, dass sie sich jeweils für den Hüter der reinen Lehre hielten. Dies führte auch innerhalb solcher Gruppierungen dazu, dass offene Diskussionen praktisch unmöglich wurden, weil jede kritische Anmerkung zum eigenen Vorgehen sofort als Zeichen eines bekämpfungswürdigen Abweichlertums gewertet wurde. Der innere Gruppenzwang war dementsprechend groß und verbunden mit der Bereitschaft, jede dem ideologietreuen Weltbild entgegenstehende Realität konsequent auszublenden. Meine eigenen nachstehend wiedergegebenen Erfahrungen in der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins stehen exemplarisch für die von heillosem Dogmatismus und sklavischem Parteigehorsam geprägte Atmosphäre innerhalb eines beachtlichen Teils des linken Spektrums in den frühen 70er Jahren. Manch einer, der damals in ähnlichen Zusammenhängen aktiv war, wird bei der Lektüre vertraute Muster wiedererkennen. Insoweit ist der seinerzeitige Teil meines Werdegangs eine gewissermaßen typische linke Geschichte. Weniger typisch ist, dass mir mein Sehvermögen im Laufe jener Jahre zunächst schubweise und zu guter Letzt vollständig abhanden kam. Einige meiner Ex-Genossen veranlasste das zu der Vermutung, ich hätte mit meinem Sehvermögen auch die politische Klarsicht verloren und sei deshalb von der proletarisch-revolutionären Linie abgekommen. Über diesen Zusammenhang mache ich mir Gedanken.
Die Entwicklungen und Begebenheiten, die ich schildere, habe ich so zu Papier gebracht, wie sie mir in Erinnerung sind. Darüber hinaus haben mir Weggefährten jener Jahre wertvolle Hinweise und Informationen gegeben, mit denen ich eigene Erinnerungslücken schließen und den Tatsachenstoff ergänzen konnte. Zur politisch-historischen Faktenlage habe ich auf allgemein zugängliche Quellen zurückgegriffen. Die in diesem Buch vorkommenden Personen sind nicht frei erfunden. Eigennamen habe ich verändert, soweit wegen ihrer öffentlichen Wahrnehmung nicht ohnehin auf eine bestimmte Person rückgeschlossen werden könnte.
Ich danke allen, die mich beim Zustandekommen dieses Buches unterstützt, mich inhaltlich beraten und an der Gestaltung mitgewirkt haben.
Berlin, im Februar 2018
Dietrich Plückhahn
Ich bin ein Verräter. Lange genug habe ich gebraucht, mir dies einzugestehen. Während Jahre dauernder, schmerzhafter Selbstanalysen neigte ich immer wieder dazu, mein damaliges Verhalten mit haltlosen Ausflüchten rechtfertigen zu wollen. Schließlich gelang es mir, bei meinen rückblickenden Betrachtungen einen objektiven Standpunkt einzunehmen. Kaum hatte ich mich dieser (übrigens einzig vertretbaren!) Erkenntnismethode bedient, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wenn man das in meinem Fall so sagen darf: Ich bin ein Verräter. John F. Kennedy sagte einmal: „Ich bin ein Berliner“. Und was bin ich? Ein Berliner bin ich auch, aber das steht nicht im Vordergrund. In Anlehnung an Kennedys Satz, den ich mit viel größerer Berechtigung als der frühere US-Präsident von mir geben könnte, muss ich für eine prägnante Kurzbeschreibung meiner Person sagen: „Ich bin ein Verräter“.
Natürlich fällt es mir erst einmal schwer, diese nicht eben schmeichelhafte Feststellung in alle Welt hinauszuposaunen. Aber auch hier hilft es, einen objektiven Standpunkt einzunehmen. Aus dieser Position heraus ist es möglich, die eigene Befindlichkeit in den Hintergrund treten zu lassen und einer individualistisch geprägten bürgerlichen Zurückhaltung entgegenzuwirken. Und schließlich ist es ungeachtet irgendwelcher Hemmungen meinerseits notwendig, jenen Verrat vor aller Öffentlichkeit an den Pranger zu stellen. Notwendig, weil hierdurch am besten veranschaulicht werden kann, was das Falsche vom Richtigen unterscheidet. Mit der Einsicht in diese Notwendigkeit ist es mir nun aber ein Leichtes, den Hergang meines Verrats niederzuschreiben. Es war, auch wenn er in einem abschließenden Geschehen kulminierte, keine einzelne Handlung, sondern ein Prozess, der in merkwürdiger, aber zwingender Weise mit einer anderen Parallelentwicklung in Zusammenhang stand.
Zweifellos war mein Verhalten schändlich. Zu meiner Entlastung kann ich allerdings vortragen, dass mein verräterisches Treiben kein bewusst gesteuerter, von meinem Willen auch nur ansatzweise beeinflusster Vorgang war. Nein, die Veränderung meiner Sichtweise vollzog sich mit einem von mir nicht aufhaltbaren Automatismus.
Wenn ich von „Sichtweise“ spreche, bedarf es gleich hier einer für das weitere Verständnis dringend gebotenen Klarstellung: Ich bin blind. Stockblind. Ich bin so blind, dass ich die Sonne nicht einmal sehe, wenn ich mit aufgerissenen Augen direkt in sie hineinstarre. Außer dem Schmerz, den die Sonnenstrahlen und nach längerer Zeit sogar normales Tageslicht auf der Hornhaut verursachen, merke ich nichts. Tagsüber laufe ich draußen meistens mit einer Sonnenbrille herum. Das schützt meine Augen vor dem schmerzenden Lichteinfall, außerdem sieht es cool aus. Meine Sehnerven sind – rechts wie links – nicht in der Lage, irgendwelche Informationen aufzunehmen, geschweige denn an das Sehzentrum meines Gehirns weiterzuleiten. Visuellen Reizen bin ich infolgedessen nicht ausgesetzt und genieße damit den zunächst unbestreitbar erscheinenden Vorteil, mich auf die verbleibenden Sinneswahrnehmungen konzentrieren zu dürfen. Dieser Vorteil ist allerdings mit einer herben Einschränkung behaftet. Mit dem langsamen Verlust meines Sehvermögens ging nämlich nicht nur der Verlust von verzichtbaren visuellen Reizen einher. Vielmehr ging mir, und das ist das eigentlich Tragische, die richtige Sicht auf die Dinge verloren. Es ist müßig, sich Gedanken darüber zu machen, ob das bei allen erblindenden Menschen so sein muss. Bei mir jedenfalls besteht an der Konnexität von Sehkraftverlust und Sichtweisenverlust nicht der leiseste Zweifel.
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