Heinrich Mann - Die große Sache

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Heinrich Manns radikalste Zeitdiagnose der Weimarer Republik.Deutschland Anfang der 1930er Jahre. Oberingenieur Brink prahlt mit der fiktiven Erfindung eines Sprengstoffs und droht damit, dass er mit dieser Erfindung Erfolg haben wird. Schnell kristallisieren sich Gut und Böse heraus. Die atemlose Jagd nach der «großen Sache», in der es kaum moralische Skrupel und Rechtsempfinden gibt, beginnt…-

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Heinrich Mann

Die große Sache

Saga

Die große Sache

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1930, 2021 SAGA Egmont

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9788726885705

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

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Erstes Kapitel

Die große Laufbahn des Reichskanzlers Karl August Schattich vollzog sich in drei Abschnitten. Er kam aus mittleren Stellungen bei der Industrie. Eines Tages durfte er als Abgeordneter die Industrie in der Politik vertreten. Ja, dort gelangte er so schnell, als ob die Republik eigens für ihn errichtet wäre, auf den höchsten Posten. Unmöglich geworden, weil er seiner Auftraggeberin, der Industrie, als Reichskanzler zugewendet hatte aus öffentlichen Mitteln, was er irgend konnte, einmal gleich siebenhundert Millionen, kehrte er in ihre Mitte zurück.

Wir finden ihn in diesem dritten Abschnitt. Jetzt vertrat er umgekehrt bei der Industrie die Politik. Er wurde politischer Berater eines industriellen Konzerns. So konnte er ihm am besten nützen, ohne selbst dabei zu verlieren. Er gehörte sogar zu den vielfachsten Aufsichtsräten, sein jährliches Einkommen sank nie unter 400 000 Mark. Sein Feld waren die Beziehungen – nicht das Wissen um irgendeinen sachlichen Inhalt, nicht die Handhabung der Dinge, nicht, was Arbeit heißt, sondern die Beziehungen. Sein Feld waren Beratungssäle, Konferenztische und die Schlachtordnungen der Klubsessel. Er war ein Menschenbehandler, insoweit sie es zuließen. Sie ließen es aber aus Schlauheit zu, wie sie meinten. Denn so gut wie er hatten auch die anderen ihre Beziehungen, darunter ihn. Einer war immer des anderen Beziehung.

Reichskanzler a. D. Schattich blieb bei dem allen ein Führer, und niemand bezweifelte es. Sein so zeitgemäßer »Verein zur Rationalisierung Deutschlands« umfaßte alle, die, ohne die im Lande bestehenden Einrichtungen gewollt zu haben, jetzt wenigstens den Nutzen für sich beanspruchten. Reichskanzler a. D. Schattich, der Gründer des wichtigen und einflußreichen Vereins, erhielt ihn hauptsächlich dadurch aufrecht, daß er mit allem im ungewissen blieb. Er hatte gelernt, daß die Menschen nichts lieber und länger ertragen als das Unerfüllte, leere Hoffnung und das Wort ohne Sinn. Diese allgemeine Neigung kam seiner eigenen Natur entgegen. Angreifern erklärte er offen: »Ich bin entschlossen, mein Werk nicht dadurch zu gefährden, daß ich mich konkret ausdrücke« – was er auch gar nicht gekonnt hätte.

In Augenblicken, die nicht ohne innere Unsicherheit waren, half ihm eine Art wütender Kühnheit. Oft erhob er Anspruch auf etwas, das er seine überparteiliche Politik nannte – da sah man ihn wild entschlossen, keine Meinung zu haben. Sein Kopf war haarlos. In einem seiner seltenen Zeitungsartikel war er dafür eingetreten, daß erst die völlige Haarlosigkeit, vereint mit der schon üblichen Bartlosigkeit, den modernen Mann mache. Er war nicht durchgedrungen. Sein zugleich hartes und verschwommenes Gesicht nahm seine Zuflucht zu der Haltung staatsmännischer Autorität, um nicht auszusehen wie all und jedes andere Gesicht der deutschen Gegenwart. Die Sorge des Reichskanzlers a. D., sich immer oben zu erhalten, hatte sein Gesicht etwas schmaler gestaltet, als für den Umfang des Körpers passend schien. Aber wer bemerkte dies, außer seiner Frau? Der große Porträtist, der ihn malte, bevor jene siebenhundert Millionen dem Schattichschen Leben einen Bruch zufügten, bemerkte es wohl. Er betonte Schlaffheit und Bleichheit, einen weichen Hals, einen schwammigen Mund, indes er auf den Schenkel des Staatsmannes eine geballte Faust legte.

Während des Abschnittes eins seiner Laufbahn, in den mittleren Stellungen bei der Industrie, hatte Dr. Karl August Schattich nur einen einzigen Anlaß besonderen Stolzes, seine Frau. Sie kam aus einer Familie von alten Reichen und brachte ihm 100 000 Mark Mitgift im Jahre 1911. Es blieb das einzige, was sie ihm jemals bringen sollte, denn der allzu gewohnte Reichtum der Ihren hielt den Gefahren der Zeit nicht stand. Sie verloren fast alles. Nora Schattich, ursprünglich die Gebende, sah sich seitdem in die Lage der unterhaltenen Frau versetzt. Die unvergleichliche wirtschaftliche Überlegenheit ihres Gatten nagte an ihr noch mehr, weil sie überzeugt war, sie stehe als Geist und Mensch turmhoch über Schattich. Tatsächlich durchschaute sie seine persönliche Politik und wußte, was von ihm übrigblieb, wenn man einige Geschicklichkeit abzog. Je mehr sie ihn verachtete, um so mehr bestaunte sie sein unmäßiges Glück. Einmal mußte es sich doch aber wenden, wenn es nicht geradezu ein Glück aus dem Märchen war. Mit großer Neugier wartete Nora Schattich darauf, daß es mit ihrem Gatten anders käme.

Er fühlte ihre Überlegenheit und leugnete sie nicht. Er wußte, daß er seinerzeit nur genehmigt worden war, um hinter die Liebe Noras zu einem hochadligen Offizier den Punkt zu setzen. Schon diese Erinnerung ordnete ihn ihr dauernd unter. Ferner bedrückten auch noch den Erfolgreichen ihre ästhetische Bildung, ihre gesellschaftliche Glätte und ihr damenhaftes Selbstbewußtsein. Sie vertrat die Dame von früher, die jede Tätigkeit, auch die nächstliegende, ablehnt. Sie hatten keine Kinder. Was ihn aber endgültig verhinderte, gegen sie aufzukommen, waren ihre körperlichen Maße, das ausgedehnte und grobe Knochengerüst, ein Eigentum ihrer ganzen Familie. Das feste und weißhäutige Fleisch, das die Knochen der hübschen Person bedeckte, hatte im Lauf der Zeit aufgehört, ihm viel zu sagen; er betrog sie mit anderen. Aber die Achtung vor ihrem Gerüst verließ den mittleren Dickwanst nie. Er blieb ihr gegenüber, wie hoch er auch stieg, der kleine Mann – körperlich, in seiner Rede und nach seiner Herkunft. Nie vergaß er in ihrer Gegenwart, daß sein eigener Vater nur Unteroffizier und Schreiber beim Magistrat gewesen war. In allen anderen Verhältnissen bemühte er sich mit wechselndem Erfolg, an seine Vergangenheit nicht zu erinnern. Am schwersten ward es ihm, wenn er gut gelaunt war; man fand ihn dann leicht gewöhnlich. Dabei belustigte er sich so gern.

Er war der Meinung, daß das Vergnügen für jeden da sei. Die Armen hätten das ihre wie die Reichen. Jeder gelange übrigens im Leben genau dorthin, wo es für ihn das beste sei, und erreiche, was ihm zukomme. Wenn er selbst mit weniger als einer halben Million Jahreseinkommen sich nun einmal nicht zufriedengeben könne, sein alter Freund Birk habe mehr oder weniger genug an einem verschwindenden Bruchteil der Summe und müsse noch froh sein. Denn Oberingenieur Birk hatte schließlich sein Schicksal selbst ausgedrückt in der überwältigenden Zahl seiner Kinder. Genau dies Schicksal gebührte dem Manne, der mit seiner lieben Frau sieben Kinder zeugte. Sechs davon lebten. Schattich hatte sie gezählt und vergewisserte sich manchmal, daß noch alle da waren.

Oberingenieur Birk war ein Mensch voll Seltsamkeit im Gewöhnlichsten. Er arbeitete fast immer, wie jetzt die meisten. Er hatte Kinder, wie wir, und fürchtete den Tod, wie die ganze Natur. Jeden Morgen um sieben ging er mit seinem braven Gesicht zur Arbeit, nicht anders als seine Monteure – jetzt zum Beispiel, da er uns zuerst begegnet, stieg er auf seine 42 Meter hohe Eisenbahnbrücke, sein noch unfertiges Werk. Dabei war er nun über die Mitte der Fünfzig hinaus und behauptete immerhin eine gehobene Stellung in dem Konzern, wo Schattich einer der Führer war. Es lag im Grunde hiermit wie mit seinen sieben Kindern. Hatte man denn mutwillig so viele? Nein; aber Birk sagte sich, was er wußte: wir sollen arbeiten, Kinder haben und sterben. Eins ist nicht trauriger als das andere; wir müssen es nur erträglich machen durch Hingabe und durch Ironie. Beide, Ironie und Hingabe, führten dazu, daß er übertrieb, zu viel arbeitete und zu viele Kinder hatte. Was den Tod betraf –

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